1. Skulptur und Malerei

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-------   Kleine Philosophie der Skulptur

 

"Skulptur ist, worüber man stolpert, wenn man zurücktritt, um sich ein Gemälde anzusehen" - hat der Maler Ad Reinhardt mal gesagt. Tatsächlich: In den Museen für bildende Kunst dominiert die Malerei. Bilder (oder Gemälde) erfreuen sich gemeinhin dort größeren Interesses als Skulpturen. Um Skulpturen zu sehen, braucht man ja auch nicht ins Museum zu gehen. Skulpturen stehen draußen, im öffentlichen Raum, zur Genüge herum. Sie sind allerdings dort, anders als die weniger wetterfesten Gemälde in den geschlossenen Räumen, unfreiwilliger Betrachtung ausgesetzt: man muss sie sehen. Unübersehbar sind sie postiert - ähnlich wie Reklamebilder.

Gemälde sucht man eigens auf im Museum. Aber, wie gesagt, dort stolpert man über die Skulpturen. Sie sind nämlich hier wie da, also drinnen wie draußen, anstößig oder aufdringlich. Sie nehmen denselben Raum ein wie ihr Betrachter. Sie sind dreidimensionale Gebilde. Gemälde sind zweidimensional, sie nehmen nur Flächen ein. Der Bildträger ist schmal. An die Wand gehängt oder an die Wand gemalt, nehmen sie kaum Platz weg.

Aber Skulpturen tun das. Sie nehmen Raum ein und weg - wie mein Körper. Das Dargestellte oder Abgebildete ist nicht im imaginären Raum wie bei einem Gemälde, sondern im realen Raum, in dem Raum, den die Skulptur einnimmt. In gewisser Weise sind Darstellung und Dargestelltes identisch: Beides sind konkrete raumerfüllende Objekte. Die Darstellung, also die Skulptur, kann denn auch für das Dargestellte genommen werden. So bei Götzen wie dem ‚goldenen Kalb' der Bibel (vgl. Exodus 32) oder Heiligenfiguren.

Das Repertoire der Objekte für dreidimensionale, also körperliche Darstellung oder Abbildung, ist beschränkt, wenn denn Skulpturen nicht allzu große überschaubare Gebilde aus Gips, Holz, Glas, Stein oder Bronze sein sollen, wie es traditionell der Fall ist. Landschaften mit Himmel, Sternen, Bergen und Meeren lassen sich kaum skulptural darstellen bzw. abbilden. Immerhin hat es Giacometti schon fertiggebracht, entfernte Gestalten darzustellen: seine überschlanken Figuren sehen aus wie in der Ferne vom Randlicht überstrahlte Silhouetten von Menschen.

Die Malerei hat es da besser. Auf den Bildflächen kann man nahezu alles hinzaubern. Hier ist die Sicht auf Dreidimensionales imaginativ. Die reale Bildfläche bietet nur ein Wahrnehmungsanalogon zu den im Bild scheinbar wahrgenommenen Objekten. Zumindest bei der sog. gegenständlichen Malerei ist das so. Bei der abstrakten Malerei kann man es dabei belassen, die Farbverteilung auf der Leinwand zu beobachten.

Die abgebildeten Gegenstände auf den Gemälden sind also gewissermaßen imaginierte Skulpturen. Insbesondere durch die Suggestivität der zentralperspektivischen Darstellung seit der Renaissance hat die Malerei über die Skulptur triumphieren können. Sie greift sich den ganzen Raum samt aller Dinge. In gewissem Sinne übernimmt in der zentralperspektivischen Malerei seit der Renaissance die Malerei das Prinzip der Skulptur, Gegenstände in den Raum zu plazieren. Zum ersten Mal hat das, soviel ich weiß, im Jahre 1504 Pomponius Gauricus formuliert, und zwar in seinem Traktat De sculptura. Er schreibt da: "Jeder Körper, in welcher Position auch immer, befindet sich notwendigerweise auf dem einen oder anderen Platz. Da dies eine Tatsache ist, müssen wir erst erwägen, was eher da war: Und da es unumgänglich ist, dass der Platz eher da ist als der Körper, der dort aufgestellt ist, wird erst der Platz konstruiert werden müssen." Diese Konstruktion leistet die Zentralperspektive, d.h. ihre Konstruktion, wie sie 1430 von Alberti und Brunelleschi erfunden wurde. Die Perspektivekonstruktion ist die Konstruktion des Raumes im Bild - so, dass die dargestellten Objekte als im Raum platzierte erscheinen, d.h. wie in der Wirklichkeit.

Zum ersten Mal gibt es seit der Renaissance, d.h. seit der Erfindung der Zentralperspektive, auf den Gemälden einen einheitlichen Raum: Man blickt auf die Bilder wie durch ein Fenster hindurch in den mit platzierten Dingen versehenen Raum. In der antiken Malerei, insbesondere in der um veristische Darstellung bemühten Illusionsmalerei, z.B. im antiken Pompei, hatte es das nicht gegeben, auch in anderen Kulturen nicht. In Japan z.B. erst nach Einführung fotografischer Darstellung, also in Nachahmung der Fotografie um 1880. Im Kino und beim Fernsehen eröffnet die Bildfläche dann sogar eine bewegte Gegenstandswelt. Denn die Gemälde brachten ja nur Momentaufnahmen - wie später die Fotos, die dann die perspektivisch-illusionistische Malerei obsolet machten.

Zurück zur Skulptur. (Ich nehme das Wort hier gleichbedeutend mit Plastik und Bildnerei, auch Bildhauerei.) Skulptur war ehemals in unserem, dem sog. abendländischen Kulturbereich, durchweg dreidimensionale Darstellung hauptsächlich von Menschen, manchmal auch von Tieren, insbesondere dann von Reitern - meist auf einem Sockel gestellt: also Standbilder. Es waren Darstellung von Heroen, Göttern, mythischen Gestalten, Heiligen, Dichtern und Denkern, Machthabern, Generälen und Soldaten, gewissermaßen Vorbildern oder exemplarischen, paradigmatischen Wesen. Dahinter stand ideologisch die Vorstellung einer Weltordnung, einer Ordnung von Natur und Gesellschaft, die es zu affirmieren galt in der bildenden Kunst, d.h. in der Architektur, der Skulptur und Malerei, die durchweg Auftragskunst waren, angefordert von Repräsentanten dieser Ordnung, von Kaiser und Papst, Fürst und Bischof usw.. Noch heute lassen sich Machthaber ihr Bild in Bronze gießen oder Stein hauen. Sie nehmen sogar öffentlich die von den Statuen früherer Imperatoren bekannten Haltungen an: Hitler oder Mussolini zum Beispiel.

Die klassische Skulptur, deren Hauptgegenstand der idealische Mensch ist, hat noch nicht ausgedient. Schon eine Woche nach dem Attentat in New York vom 11. September 2001 gab es eine Bronze-Statue des paradigmatischen Feuerwehrmanns. Allerdings hat man (es war der Komponist Karl-Heinz Stockhausen) dieses Attentat selbst als das noch größere Kunstwerk angesehen, ja als das größte Kunstwerk überhaupt gefeiert.

Dahinter steckt ein anderer Kunst- bzw. Skulpturbegriff. - Sowohl im öffentlichen Raum als auch in den Museumsräumen sieht man ja längst, nämlich seit Anfang des 20. Jahrhunderts, ganz andere Skulpturen als die bekannten Knienden, Schreitenden, Trauernden, Hockenden oder Stehenden. Andere Objekte, als es bislang die Definition von Skulptur oder Bildnerei forderte. August Wilhelm Schlegel definierte Skulptur oder Bildnerei 1798 wie folgt: "Gegenstand der Bildnerei ist die schöne Außenform des ganzen Leibes". Diese Bestimmung entsprach dem, was man an der griechischen Kunst so schätzte. Tatsächlich spielte bei den alten Griechen die Darstellung des schönen Körpers eine große Rolle: Sie galt dem ethischen Programm der Kalokagathia (kalos = schön, agathos = gut), des Schön-und-gut-Seins an Leib und Seele. Der Körper lässt dabei die Seele durchscheinen. Erst dadurch ist er schön.

Heute kann jedwedes Etwas eine Skulptur sein bzw. als ästhetisches Phänomen genommen werden und darum schön sein: Berge, Architekturen, Landschaften, irgendwelche Fundsachen, z.B. Einkaufstüten im Hausflur. Sogar Zweidimensionales wie Texte an der Wand, oder überhaupt sog. Events jeder Art, also Aktionen und Prozesse wie Performances, gar ganze Gesellschaften (vgl. soziale Plastik von Beuys!) nennen sich Skulptur. In der Konzept-Art auch Geistiges. Wie zur Ironie der idealischen Menschenskulptur stellt man plastinierte Tote ins Museum oder täuschend echte Gestalten, Untote.

Hebt sich damit die Skulptur in die Realität auf? Verschwindet sie durch Inflation - nach dem Motto ‚Alles ist Skulptur', und das heißt ‚Skulptur ist nichts Besonderes mehr, kann man vergessen!'?.

-------Spanische Landschaft

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-------Lebende Skulptur in Paris

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-------Weinende Bronzestatue des Padre Pio in Messina

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-------Giacomettis Menschenskulpturen

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-------Raumillusionistisches Deckengemälde (sog. Quadratura-Malerei) von Andrea Pozzo in S. Ignazio, Rom 1694

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-------Polizist mit Präsident Washington in New York

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-------11. September 2001

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-------Tüteninstallation von Silvie Fleury, 1991

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-------Museumsmenschen von Duane Hanson

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