Kapitel 17
Religion und Totalitarismus (Messadié , Dell´Agli)

Sechs Religionen beherrschen die Welt heute demographisch und kulturell, das Christentum, der Islam, der Hinduismus, der Buddhismus in seinen verschiedenen Formen, der Shintoismus und der jüdische Glaube, schreibt Messadié. (Vgl. S.324. Man kann auch anders zählen und zweimal drei Religionen nennen: die Religionen des ewigen Weltgesetzes Hinduismus, Buddhismus und Daoismus, und die Religionen der geschichtlichen Gottesoffenbarung Judentum, Christentum und Islam.)

„Im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung“, schreibt Gérald Messadié (in Die Geschichte Gottes. Über den Ursprung der Religionen, S.309), „sind Gottheiten auf Erden allgegenwärtig. Sie schimmern, funkeln und schillern auf der ganzen Welt in unzähligen Erscheinungsformen“ - bei nur einem Bruchteil der heutigen Erdbevölkerung. Sie wurden von einem „Boden, einer Kultur oder lokalen Tradition hervorgebracht“. Heute sind sie zum allergrößten Teil verschwunden. Der Gott der meisten Gläubigen heute ist kein einheimischer Gott mehr. Erstmals wurde dreihundert Jahre nach Jesus und Paulus eine einzige Gottesvorstellung verschiedenen Völkern mit ihren bislang einheimischen Religionen bzw. Göttern aufgezwungen, als nämlich Konstantin das Christentum zur Staatsreligion machte. Das allgemeingültige Modell der Religionsvereinheitlichung scheint hier vorzuliegen: Verbindung von Religion und Staat, d.h. „religiöser Imperialismus“ (S.325) oder Religion als „staatliche Institution“ (S.309).

Der Wechsel von vielen kleinen bodenständigen Religionen zu wenigen volksgebietsübergreifenden großen Religionen wird meistens auf die Entstehung von fortschrittlich, d.h. humanitär genannten Gesellschaften oder Kulturen zurückgeführt. „Der Humanismus oder gar nur eine allgemein humanitäre Geisteshaltung sollen derartige Praktiken“, wie sie für gewisse kleinere Regionalreligionen typisch seien, z.B. Menschenopfer, „aufgehoben haben.“ Messadié verwirft diese Erklärung mit Hinweis darauf, dass z.B. Respekt vor Mitmenschen, Demokratie oder Sinn für soziale Gerechtigkeit nicht durch oder mit dem Christentum gekommen seien. Sie hätten sich eher gegen es etabliert. Auch dass der Mensch dank Evolution heute intelligenter sei als vor zweitausend Jahren, stimmt nicht, kann also auch nicht für den Wechsel verantwortlich gemacht werden.

„Zwei parallele, verifizierbare geschichtliche Phänomene geben ansatzweise Antwort: die Ausdehnung der Imperien und der Rückgang der Zahl der Religionen. Je flächenmäßig größer politische Machtgebiete werden, und je weniger verschiedene Bildnisse es von Gott gibt, umso politischer wird Gott, das heißt, er gerät zu sich selbst in Widerspruch.“ (S.313) Nur zwei der großen Religionen, Christentum und Islam, zeigten imperialistische Ambitionen. Dank Waffengewalt waren sie so erfolgreich, bemerkt Messadié (S.326). Die jüdische Religion entwickelte seit dem Fall des Römischen Reiches keinen Bekehrungseifer mehr. Der Hinduismus lehte Bekehrung ab: Man wird als Hindu geboren. Der Buddhismus blieb (nach dem Missionseifer von Ashoka) auf Asien beschränkt. Der Shintoismus ist eine nationale Philosophie.

Zwei Religionen haben das Bild Gottes auf Erden aus strikt politischen Gründen verändert: Christentum und Islam. - Bald nach der Bekehrung Konstantins lagen im römischen Reich die drei Staatsgewalten, Legislative, Judikative und Exekutive, in der Hand gläubiger Christen. Der Kaiser erklärte sich zum Instrument Gottes. „Ein Reich, ein Gesetz, eine Kirche“, war die Devise Justinians. Juden und Ungetaufte wurden verfolgt. „Johannes, Titularbischof von Ephesos, rühmte sich, im westlichen Kleinasien achtzigtausend Personen bekehrt, ihre Tempel zerstört und zahlreiche Kirchen erbaut zu haben.“ (S.327) „Der Irrtum des Götzendienstes ist von selbst erloschen“, erklärte im 6. Jh. Der Heilige Johannes Chrysostomos, Autor der Schrift gegen die Juden. Auch Mohammed eroberte mit dem Schwert die halbe Welt. Napoleon wunderte sich, dass er das in 10 Jahren schaffte, während das Christentum dazu drei Jahrhunderte brauchte.

„Die ´primitiven´ Religionen sind aus einer mehr oder weniger freiwilligen Teilnahme an den gemeinsamen Riten, die einem Bedürfnis nach übernatürlichem Schutz entgegenkamen. Christentum und Islam verwandelten Gott in ein Machtinstrument in den Händen von Menschen, die sich als seine Statthalter ausgaben – selbstverständlich ohne jede natürliche oder übernatürliche Legitimation. In dieser Form von Autorität liegen die Gründe der Krise, die die Offenbarungsreligionen derzeit heimsucht. Der moderne Gott ist nie etwas anderes gewesen als ein politischer Gott.“ (Messadié S.329 f) „Es ist, als ob die Universalkirchen das individuelle Grundbedürfnis nach einem Gott in eine Form der weltlichen Eroberung und Vernichtung jeder abweichenden Auslegung Gottes verwandelten. Die Kreuzzüge stellten eine andere augenfällige Illustration des kolonialistischen Totalitarismus der Eroberungstheologien dar.“ („Alle Gläubigen haben die Pflicht und das Recht, dazu beizutragen, dass die göttliche Heilsbotschaft immer mehr zu allen Menschen aller Zeiten auf der ganzen Welt gelangt“, heißt es im Kanon 211 der katholischen Kirche. Messadié S.334) „Umgekehrt ist jede Gottesauslegung, die keine Armee aufstellt, keine Terroristen, Gelder und Befreiungsfronten mobilisiert, keinen religiösen Wahn hervorruft, dem Untergang geweiht.“ (S. 334. Messadiés Beispiel dafür: die syrisch-orthodoxe Gemeinde in Mardin, Türkei. Diese monophysitische, d.h. dem Gottessohn Jesus nur ein göttliches, nicht auch menschliches Wesen zugestehende Glaubensgemeinschaft „nimmt keine Geiseln, sprengt keine Flugzeuge in die Luft, also kann sie verschwinden.“ S.334)

„Mein Reich ist nicht von dieser Welt“, sagt Jesus in der Bibel. Dennoch hat die christliche Kirche „das Bild Gottes mit dem Schwert“ gezeichnet. Sie hat die Art der Gottesbeziehung verändert: „Einst hatte die Furcht vor dem Unbekannten das Bedürfnis nach Gott geweckt. Von nun an sollte die Furcht vor dem Nächsten die Furcht vor dessen Gott nähren, das heißt den Hass schüren.“ (S.338)

Ohne feindliche Fixierung auf die von ihnen Ausgeschlossenen würden gewisse Glaubenssysteme implodieren, meint Dell´Agli (´Schläft ein Krieg in allen Köpfen. Über Religion und Totalitarismus´ in: Merkur 633, S.73 ff). Das kriegerisch-imperialistische Moment käme demnach aus der Art des religiösen Glauben selbst, und zwar aus der Autoaggressivität des Glaubens auf Grund seiner Überich-Forderungen, dem „Krieg gegen sich selbst und gegen die Frauen“, einem Krieg, der immer wieder gegen äußere Feinde gerichtet werden muss, um das Sinnwidrige der religiösen Überich-Forderungen umzudeuten ... und den unerträglichen Frust ventilieren zu können.“ (S.73)

Warum diese Autoaggressivität eines Glaubenssystems, warum und woher diese Überich-Forderungen? Dell´Agli schreibt: „Seit jeher gründet die Autorität von Religionen in ihrer Fähigkeit, der unerträglichen Endlichkeit des Seins einen tröstenden Sinn abzugewinnen. Ihre Antworten konvergieren in dem Appell zur Überwindung der physischen Gebundenheit des Daseins, insbesondere der triebhaften Begierden als Vorbereitung auf ein erlöstes Leben im Jenseits. Diese durchaus ambivalente Heilsbotschaft enthält bereits in nuce jene Programme sei es zur Mobilisierung, sei es zur Disziplinierung menschlicher Affekte, deren zerstörerisches Potential immer noch nicht ausgereizt zu sein scheint: Die fürs utopische Streben nötige Aufschubsökonomie; die erst mit der Reduktion leiblicher Bedürftigkeit möglich gewordene autosuggestive Selbststeigerung, die in dem Wahlspruch, dass dem Gläubigen alles möglich sei (Mk 9:23) beziehungsweise dass der Glaube Berge – oder eben Türme – zu versetzen vermag (Mt 17:20), ihre bündigste Kodifizierung fand; und die Identifizierung der Frau als Verkörperung des Unreinen und Unvollkommenen irdischen Lebens mit der daraus folgenden Institutionalisierung des Patriarchats zur Kontrolle von und das heißt zum Kampf gegen Sexualität allgemein und Weiblichkeit insbesondere.“ (S.73)

„In Europa bedurfte es etlicher Jahrhunderte humanistischer und wissenschaftlicher Aufklärung ... um den Prozess der psychohistorischen Entblödung und also der Sensibilisierung für die Sinnhaftigkeit diesseitiger Perspektiven einzuleiten. Kaum hat sich das Abendland von der Angstpolitik des Christentums emanzipiert ...., da dringt das Überwundene in Gestalt fundamentalistischer Heilslehren, Rechtsauffassungen und Lebensformen wieder in die offene Gesellschaft ein und zwingt ihr Auseinandersetzungen von vorgestern auf.“ (S.73)

Von einer berechtigten angeblichen Rückkehr der Religionen ist die Rede, „wo doch zumindest für Europa – ein paar Sekten ausgenommen- lediglich das Fortdauern eines nicht säkularisierbaren Bedürfnisses nach Transzendenz konstatiert werden kann.“ (S.73 f). Habermas räumt in seiner Paulskirchenrede der „Artikulationskraft religiöser Sprachen“ den Primat vor der Moralphilosophie ein und gibt der Religion sogar noch das Recht auf ein „aufschiebendes Veto“ im politischen Diskurs.

„Schon die gebetsmühlenartige Beteuerung vom ´Missbrauch´ der Religion verlässt den Horizont aufgeklärten Bewusstseins, impliziert sie doch die Vorstellung einer Religion an sich, die unabhängig von den Interpretationen und den praktischen Setzungen der sie tragenden Bewusstseine existierte. Vollends unverständlich wird sie angesichts der überwältigenden Fülle an ´heiligen´ Texten, die dokumentieren, dass fundamentalistische Gesinnung – eine Mischung aus Sendungsbewusstsein, Allmachtsphantasien und manichäischem Weltbild – integraler Bestandteil aller Religionen, insbesondere aber der monotheistischen ist und keineswegs ein später Reflex auf den Verlust ihrer Autorität in der Moderne.“ (S.74)

„Für den Islam bedeutet das, dass alles, was heute als fundamentalistische Abirrung von der wahren Lehre bagatellisiert wird, im Koran vorgesehen ist: Frauendiskriminierung, Sklaverei, Antisemitismus, Religionskrieg, Missachtung der Menschenrechte, allen voran der Freiheitsrechte und des Rechts an leiblicher Unversehrtheit.“ (S.74)

„In jedem Gläubigen ´schläft´ das Dispositiv für Fanatismus, Intoleranz und Verfolgungswahn. Doch seit dem Zusammenbruch des Kommunismus wehrt sich die westliche Intelligenz mehrheitlich, noch irgendein Feindbild der liberalen Gesellschaft auszumachen, ja auch nur seine theoretische Möglichkeit zu akzeptieren und untergräbt so die Grundlagen eine ´wehrhaften´ Demokratie. So erstarkt im Schutze des Religionsprivilegs aufs neue der Totalitarismus in den Grenzen des Rechtsstaates. Mit einem gravierenden Unterschied: Die religiöse Gestalt des totalitären Bewusstseins entbehrt jedes rationalen Kerns und ist daher unkorrigierbar. Das belegt nicht zuletzt die Tatsache, dass in den letzten Jahrzehnten Menschen nach Europa eingewandert sind, die knapp dem Inferno daheim entronnen nichts Besseres zu tun wussten, als die Bedingungen ihres Elends und ihrer Unfreiheit prompt auf freiheitlichem Boden wiederherzustellen – ein Verhalten, das bei Opfern stalinistischer oder faschistischer“ (sog. totalitärer) „Regime undenkbar gewesen wäre. Die aktuelle Gestalt des Islam zwingt dazu, Religionen wieder unter dem Gesichtspunkt des Totalitarismus zu betrachten. Es ist sein ungewolltes Verdienst, die kritische Öffentlichkeit in der ganzen Welt an diese fortdauernde Gefährdung ihrer“ (d.h. der kritischen Öffentlichkeit) „zu erinnern. Sie sollte endlich aufhören, die Augen davor zu verschließen.“ (S.78)

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