Kapitel 16
Religion und Spiel (Huizinga)

Religion, ebenso wie Kunst, Sport oder Magie, ja, alle Kultur kommt aus dem Spiel, meint Johan Huizinga (in seinem Buch von 1938 Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel). „Jedes Spiel ist eine abergläubische Betätigung (und umgekehrt): Es beinhaltet immer eine verleugnete, durch besseres Wissen in der Schwebe gehaltene Illusion. ... Wenn das Wissen zum Inhalt hat, dass das Spiel eben ´nur ein Spiel´ ist, so muss das Spiel zugleich eine gegenteilige Illusion beinhalten, nämlich die, ´mehr als nur ein Spiel´ zu sein. ... Überhall, wo heiliger Ernst herrscht, muss eine verleugnete, in der Schwebe gehaltene Illusion bestehen.“ Die Lust an der (durch Verleugnung) in der Schwebe gehaltenen Illusion macht den heiligen Ernst des Spiels aus. Der heilige Ernst ist Anzeichen dafür, dass eine ´Einbildung der anderen´ vorliegt. - Verleugnung und Aberglaube waren es, was Mannoni untersuchte. Huizinga untersucht das Spiel. Beider Untersuchungsgegenstände sind also identisch. (Pfaller S.122 f) Huizinga stellt besonders den affektiven Aspekt heraus.

Huizingas These lautet: “Die psychische Intensität, die durch das Spiel – bei Spielern wie Zuschauern – hervorgerufen wird, ist größer als die im übrigen Leben auftretenden Affektgrößen.“ Die gesteigerte affektive Intensität, die das Spiel erzeugt, das Entzücken, die Anteilnahme und feierliche Ergriffenheit, nennt Huizinga den heiligen Ernst des Spiels. Dieser ist der Ursprung der Kultur. Er ist in allen Formen von Kultur. „Gerade die religiösen Kulte betrachtet Huizinga als Effekte des vom Spiel hervorgebrachten ´heiligen Ernsts´.“ (Pfaller S.95) - „Der Gegensatz zu Spiel ist nicht Ernst, sondern – Wirklichkeit“, sagt Freud (in Der Dichter und das Phantasieren, Bd.X, S.171).

Huizinga definiert Spiel wie folgt: „Der Form nach betrachtet, kann man das Spiel ... eine freie Handlung nennen, die als ´nicht so gemeint´ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft und Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft, die ihrerseits sich gern mit einem Geheimnis umgeben oder durch Verkleidung als anders als die gewöhnliche Welt herausheben.“ (Huizinga S.20) Funktionen in höheren Formen des Spiels sind Kampf und Darstellung. Das Spiel stellt dann einen Kampf um etwas dar oder einen Wettstreit darum, wer etwas am besten wiedergeben kann, schreibt Huizinga. Darstellung ist eine Scheinverwirklichung.

Beim Kult als geweihter Schaustellung kommt noch etwas hinzu: das Mystische. „Etwas Unsichtbares und Unausgedrücktes nimmt in ihr schöne, wesenhafte, heilige Form an. Die Teilnehmer der Kulte sind überzeugt, dass die Handlung ein gewisses Heil verwirklicht und eine Ordnung der Dinge zustande bringt, die höher ist als die, in der sie gewöhnlich leben.“ (Huizinga S.21) „Der Kult ist also eine Darstellung, eine dramatische Vorstellung, eine Verbildlichung, eine stellvertretende Verwirklichung. Auf den heiligen
Festen, die mit den Jahreszeiten wiederkehren, feiert die Gemeinschaft die großen Ereignisse im Leben der Natur in geweihten Vorführungen.“ (S.22) „Es ist ein heiliges Spiel, unentbehrlich für das Wohl der Gemeinschaft, trächtig von kosmischer Einsicht und sozialer Entfaltung, aber es ist immer ein Spiel, eine Handlung, die sich, wie Plato es sah (Nomoi VII, 796 b), außerhalb und über der Sphäre des nüchternen Lebens von Notdurft und Ernst vollzieht.“ (S.32)

„Der Geisteszustand, in dem die religiösen Feste von Wilden gefeiert und mitangesehen werden, ist nicht der einer vollkommenen Verzückung und Illusion. Ein hintergründiges Bewusstsein von ´Nichtechtsein´ fehlt nicht. „ Die Stellung der Männer, die während der Feste mit Geistern umgehen und die Zeremonien ausführen, „gleicht der der Eltern, die von der Maske des Weihnachtsmannes wissen und sie vor dem Kind verbergen“ (S.20, Zitat von Ad. E. Jensen aus Spiel und Ergriffenheit). „Das Schwebende des religiösen Bewusstseins bei den Loango-Negern“ drückt ein anderer Ethnologe so aus: „Ihr Glaube an die heiligen Vorstellungen und Gebräuche ist ein halber Glaube, er geht mit Spötterei und Gleichgültigtun zusammen.“ (Huizinga S.30) „Der Eingeborene, sagt Bronislaw Malinowski, fühlt uns fürchtet seinen Glauben mehr, als dass er ihn sich selbst deutlich formuliert.“ (S.30)

Der Glaube der Eingeborenen ist, wie im vorigen Kapitel dargelegt, eher Aberglaube als Bekenntnis. Wir habe da auch herausgestellt, dass Kulturen des Aberglaubens oder des distanzierten Glaubens im Schwinden sind – zugunsten von Kulturen mit angeeignetem Glauben (Bekenntnissen). Die spezifische Form der Einbildung ohne Eigentümer ist aber in allen lustvollen kulturellen Praktiken, Spielen, Kunstwerken und manchen therapeutischen Techniken am Werk. (Pfaller S.9) Sie dominiert nicht mehr in unserer Kultur. Unsere Gesellschaftszusammenhang wird nicht hauptsächlich durch den ideologischen Mechanismus der Einbildung ohne Eigentümer geregelt. D.h. dann auch (im Sinne der Identität von Huizingas Spiel und Mannonis in der Schwebe gehaltener Illusion), dass das Spiel aus der Kultur verschwindet.

Huizinga konstatiert denn auch einen Rückzug des Spiels aus der Kultur, die doch im Spiel ihren Ursprung hatte – auffällig besonders im 19. Jht. (Huizinga S.183) „In dem Maße, wie die Kultur sich geistig entfaltet, breiten sich Gebiete, auf denen der spielhafte Zug nicht oder kaum wahrnehmbar ist, auf Kosten der Gebiete aus, in denen das Spiel freie Bahn hat. Die Kultur als ganze wird ernster – Gesetz und Krieg, Wirtschaft, Technik und Kenntnisse scheinen ihren Kontakt mit dem Spiel zu verlieren. Sogar der Kult, der ehemals in der heiligen Handlung einen breiten Raum für spielhaften Ausdruck hatte, scheint an diesem Prozess Anteil zu haben.“ (Huizinga S.131) Wie ist dieser Rückzug des Spielerischen zu erklären?

Er läuft offenbar parallel mit der zunehmenden Ritualfeindlichkeit der Religionen. Er könnte ähnlich wie diese erklärt werden – durch Freud (in Zwangshandlungen und Religionsausübungen, Bd. VI, S.11-21). Das unternimmt Pfaller. Er argumentiert: Nach Freud sind Religionsübungen, d.h. religiöse Rituale, als Zwangshandlungen zu begreifen, durch ein unbewusstes Schuldbewusstsein hervorgerufen. Sie dienen der Abwehr – wenngleich als Kompromissbildung, die immer auch dem Abzuwehrenden Eingang verschaffen; und der Mechanismus ihrer Genese ist der der psychischen Verschiebung. (Freud: „Auch der Religionsbildung scheint die Unterdrückung, der Verzicht auf gewisse Triebregungen zugrunde zu liegen; es sind ... eigensüchtige, sozialschädliche Triebe.“ S.19 f „Die Motive, die zur Religionsübung drängen, sind ... allen Gläubigen unbekannt oder werden in ihrem Bewusstsein durch vorgeschobene Motive vertreten.“ S.18)

„Von diesem Punkt aus eröffnen sich Freud einige äußerst interessante religionstheoretische Perspektiven. Wenn Religionsübungen genau wie Zwangshandlungen Kompromissbildungen und als solche durch einen ´nicht abschließbaren Konflikt´ bedingt sind, so lässt sich daraus ihre Tendenz zur Miniaturisierung verstehen – der auch in der Geschichte vieler Religionen verfolgbare Vorgang einer zunehmenden ´Verschiebung vom Eigentlichen, Bedeutsamen, auf ein ersetzendes Kleines´ (Freud Bd.VII, S.20). Die kleinen Gesten der Religion werden immer kleiner, weil der Konflikt, der ihnen zugrunde liegt , über die Verschiebung zu ersten, provisorischen, bereits selbst miniaturhaften symbolischen Lösungen gelangt, die allerdings nach einer gewissen Zeit durch weitere Verschiebungen erneuert und weiter miniaturisiert werden müssen.“ (Pfaller S.152 f) „Aus dieser Verkleinerungstendenz lassen sich für Freud die Einschnitte in der Religionsgeschichte verstehen: ´Darum unterliegen die Religionen auch ruckweise einsetzenden Reformen, welche das ursprüngliche Werteverhältnis herzustellen bemüht sind´ (Freud Bd. VII, S.20). Solche Reformen können als Vorgänge zunehmender Verinnerlichung aufgefasst werden: Rituale werden ersetzt durch Gesinnungen, welche Rituale untersagen. Die Reform richtet sich gegen die Form: Formelles verschwindet zugunsten von Inhalten. Solche ´anti-ritualistischen´ Reformen, die auf Rücknahme der ´läppisch´ und ´sinnlos´ erscheinenden formellen Vorschriften und Gebräuche abzielen, wie es beispielsweise der Widerspruch des Protestantismus gegen die den Katholizismus bestimmenden Formalitäten vorgeführt hat, setzen an einem Punkt fortgeschrittener Verkleinerung an.“ (Pfaller S.154)

Pfaller schreibt: „Mit seiner Theorie der ´ruckweise einsetzenden Reformen´ in der Geschichte der Religionen hat Freud gezeigt, wie magische Praktiken sich in einem bestimmten Moment in Religionen verwandeln und wie diese Religionen sich von nun ab permanent feindlich gegenüber jenen magischen Praktiken verhalten, die sie gleichwohl niemals gänzlich aufgeben können. Er hat damit denkbar gemacht, dass die ambivalent bedingten Zwangshandlungen selbst auf ihre teilweise Abschaffung hindrängen. Wenn Freuds Analyse richtig ist, so würde ihr Ergebnis für Huizingas Theorie des Spiels bedeuten, dass der ´heilige Ernst´ der Spiele selbst jene Dynamik bedingt, kraft deren das Spiel zum Rückzug aus der Kultur tendiert. Für Mannonis Theorie hätten wir mit Freuds kulturtheoretischer These einen Hinweis darauf gefunden, dass der Aberglaube, die Einbildung der anderen, Momente enthält, durch die sie dazu tendiert, Bekenntnis, eigene Einbildung, zu werden. Die ´Dialektiken´ des Aberglaubens wie des Spiels wären ausgehend von der Dynamik der Zwangsneurose verständlich geworden.“ (S.159)

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