Kapitel 15
Aberglaube und Bekenntnis (Mannoni)

Prälogisches Denken, Zauber und Magie mit mystischer Partizipation gibt es auch bei uns. Priester verwandeln Brot und Wein in Fleisch und Blut, Seelen steigen in den Himmel, harren im Fegefeuer aus oder stürzen in die Hölle, Lahme, Blinde werden von Engeln oder der göttlichen Jungfrau geheilt, einem Gott wird gedankt, dass er nicht den Dankenden, sondern den Nachbarn hat unters Auto kommen lassen, usw.. Robert Pfaller (in seinem Buch Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur) fragt: „Was hindert die ´Zivilisierten´- offenbar im Unterschied zu den sogenannten Wilden – daran, zu erkennen, dass auch sie zaubern? Welcher Unterschied in den gesellschaftlichen Tatsachen besteht zwischen einer Gesellschaft, die ihrer Magie gewahr ist und einer, die es – offenbar mit Notwendigkeit – nicht ist? Für welchen Typ von Gesellschaft ist eine solche Verkennung charakteristisch und notwendig? Hängt möglicherweise das ganze Selbstverständnis von ´Zivilisiertheit´ alleine von diesem Merkmal ab? Und warum neigen die ´Zivilisierten´ dazu, sich falsche Vorstellungen darüber zu machen, was es heißt, etwas zu glauben? Bedeutet dies nicht auch, dass die ´Zivilisierten´ ebenso irrige Vorstellungen davon haben, was es heißt, etwas zu wissen?“ (S.45) Heißt letzteres (Wahrheit zu besitzen) sich einzubilden, über eine Einbildung zu verfügen, die keine wäre? Während es sich beim Glauben der Wilden um distanzierte Einbildungen handeln würde, solche, die durch besseres Wissen in der Schwebe gehaltene Illusionen wären? (vgl. S.19)

Paul Veyne hatte (1987 in seiner Abhandlung Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Ein Versuch über die konstitutive Einbildungskraft) die Frage aufgeworfen: „Wie kann man halb glauben oder an Dinge, die in sich widersprüchlich sind?“ Als Beispiel führt er einen äthiopischen Stamm an, der glaubt, dass der Leopard ein christliches Tier sei, das die Fasttage beachte, aber dennoch an diesen Tagen die Tiere bewacht, um sie vor Leoparden zu schützen. Ein gutes Beispiel, schreibt Pfaller, für eine durch besseres Wissen auf Distanz gehaltene Einbildung oder einen durch aufgeklärte Praxis aufgehobenen Mythos. Friedrich Engels meint (in seiner Schrift von 1884 Der Ursprung der Familie), ein klassischer Gelehrter des 19. Jhts. wie z.B. Bachofen hätte mindestens ebenso sehr an die Erinnyen, Apollo und Athene geglaubt, wie seinerzeit die Griechen, z.B. Aischylos. Also vielleicht noch mehr als die Griechen! Womöglich trägt der Gelehrte eine Form des Glaubens an die fremde Kultur heran, die dieser Kultur fremd war. Womöglich glaubten die Griechen ironisch distanziert. „Was für Äschylos etwa den Stellenwert unseres Weihnachtsmannes gehabt haben mag, behandelt Bachofen, Engels zufolge, so, als wäre es das Gegenstück der zehn Gebote – als eine Überzeugung, zu der man zu stehen hat.“ (Pfaller S.17) D.h.: „Ein geschichtlicher Bruch nicht hinsichtlich der Inhalte, sondern vielmehr hinsichtlich der Form der gesellschaftlichen Einbildung würde die griechische Antike von manchen späteren Epochen trennen. Kulturen des distanzierten Glaubens wären von jenen Kulturen geschieden, die Formen von angeeignetem Glauben besitzen und Einbildungen pflegen, zu denen sie stehen.“ (S.18)

Die Frage nach der Möglichkeit eines distanzierten Glauben, also wie ein Glaube (croyance) zugleich aufgegeben und beibehalten werden kann, sieht Octave Mannoni (in den beiden Aufsätzen Je sais bien, mais quand même ...sowie L´illusion comiquevon 1964 und 1985) in Freuds Fetischismus-Aufsatz von 1927 beantwortet. „Damit ermöglich Mannoni der psychoanalytischen Theorie nebenbei auch ein Herangehen an jene Phänomene, die ursprünglich mit dem Terminus ´Fetischismus´ bezeichnet worden waren: jene eigentümlichen Religionen – beziehungsweise jene eigentümlichen kolonialistischen Vorstellungen von fremden Religionen, die den Anfang des Diskurses um diesen Begriff gebildet hatten.“ (Pfaller S.48. Die mit Fetischismus bezeichneten religiösen Phänomene werden in der Psychoanalyse unter dem Gesichtspunkt der Zwangsneurose untersucht.)

´Ich weiß zwar, aber dennoch ...´, diese Formel Mannonis mach die Struktur der Verleugnung explizit, die für den Fetischisten kennzeichnend ist. Freud untersucht den Fall eines Mannes, der sich wieder besseres Wissen in seinem Fetisch (etwa einem Schuh) den Beweis für den weiblichen Penisbesitz hält (wobei davon auszugehen ist, dass die Entdeckung des weiblichen Genitales in jungen Jahren für den Mann traumatisch war, erschien ihm dieses doch als Ergebnis einer Kastration, mit der ihn im Fall der Masturbation von Erziehungspersonen gedroht worden ist, vgl. Freud Bd.III, S.385). Der Fetischist weiß zwar (dass die Frau keinen Phallus hat), verleugnet das aber, und zwar stumm, indem er sich einen Fetisch hält.

Während Fetischisten und Neurotiker mit latenten Illusionen operieren (ihnen ist nicht bewusst, dass ihre ´sinnlosen´ Handlungen etwas bedeuten), tut es die familiäre Weihnachtsmann-Inszenierung mit manifesten. Jeder weiß, was gespielt wird: dass gespielt wird. Die dargestellte Illusion ist manifest. Aber beide Male verhindert das bessere Wissen, dass die Akteure sich selbst als Träger solcher Illusionen empfinden. „Würde man ihnen die Illusion auf den Kopf zusagen, so würden sie sie entrüstet von sich weisen. Der Glaube wird durch Verleugnung produziert.“ (Pfaller S.54)

Ein solcher Glaube (croyance) ist etwas anderes als ein Glaube im Sinne einer religiösen Überzeugung (foi). Ersterer kann Aberglaube genannt werden, letzterer Bekenntnis. „Während man ein Bekenntnis für sich selbst – meist stolz – in Anspruch nimmt, will man mit einem Aberglauben meist nichts zu tun haben.“ (Pfaller S.64) Aberglaube kann es geben ohne Bekenntnis, d.h. ohne bedingungsloses Engagement, wie es die biblischen Juden nur einem Gott gewidmet haben, während sie in der Form des Aberglaubens an die Existenz vieler Götter glaubten.“ Aber es gibt wohl kein Bekenntnis ohne Aberglauben. Bekenntnisreligionen kommen alle nicht ohne Mythen und Rituale aus, die aber dann vom Gläubigen abqualifiziert werden als nicht wesentlich für ihre Religion. (S.61 f)

Mannoni behauptet nun: „Was für die Überzeugung (das Bekenntnis) der sogenannten ´Wilden´ gehalten wird, ist in Wahrheit deren Aberglaube. Und: Es gibt auch einen Aberglauben der ´Zivilisierten´. Dabei gilt eine perspektivische Illusion: Eigener Aberglaube wird übersehen, fremder Aberglaube wird als Bekenntnis aufgefasst. (Pfaller 74) „Waren die ´Wilden´ Bekenner oder waren sie Abergläubische? Glaubten sie selbst oder nicht? Waren sie bemüht, Subjekte ihrer Einbildungen zu sein, oder begnügten sie sich damit, deren Objekte zu bleiben? Beinhalteten ihre Einbildungen ein Selbstbild, ein Ideal-Ich, aus dem sie Selbstachtung zu gewinnen versuchten, oder waren es für sie schlichtweg Einbildungen der anderen, an deren Distaztierung sie sich erfreuten?“ (Pfaller S.85)

Für den vermeintlichen Prozess der Zivilisation ergibt sich durch Mannonis ´perspektivische Illusion´ eine neue Sicht: Der von Norbert Elias (in seinem Buch Über den Prozess der Zivilisation) gesehene aufklärerische Abbauprozess (als fortschreitende Trieb-Zähmung des Menschen) könnte eine Illusion sein. „Könnte es nicht sein, dass Gesellschaften lange Zeit ihre Einbildung allein nach dem Modus des Aberglaubens organisierten, bevor sie begannen, Bekenntnisse aufzubauen? Wäre es also denkbar, dass die Zusammenhalt stiftende, ideologische Funktion gesellschaftlicher Einbildung lange Zeit allein von ´Einbildungen für andere´’(d.h. ohne Subjekt oder bekennendem Träger) erfüllt worden wäre, und dass der uns so vertraute und so verallgemeinerungsfähig erscheinende Typ des Bekenntnisses erst ein relativ spätes und besonderes Produkt darstellt? Könnte es also sein, dass man lange Zeit wenig geglaubt hat, und erst später mehr? Wäre es also denkbar, dass nur ganz bestimmte Gesellschaften einen späten Übergang von einem System des reinen Fremdglaubens zum System eines von Eigenglauben überbauten Fremdglaubens vollzogen hätten?“ (Pfaller 85 f)

Hans Peter Duerr hat (in seinem Buch Der Mythos vom Zivilisationsprozess) deutlich gemacht, „dass Elias mit seiner These vom ´Zivilisationsprozess´ nichts anderes getan hat, als einem trügerischen Selbstbild sogenannter zivilisierter Kulturen eine theoretische Formulierung zu geben“. Woher die Illusion vom Zivilisationsprozess bei den Zivilisierten? – Mannonis Antwort: Weil dieses Kulturen des Bekenntnisses sind. „Es sind also Kulturen, die ihre Einbildungen nicht bloß für einen Fremdbedarf produzieren, sondern sie dazu gebrauchen, um Selbstachtung aus ihnen zu beziehen. Diese Selbstachtung drückt sich im ´Bewusstsein´ der ´Zivilisiertheit´ und in der verächtlichen Behandlung anderer Kulturen aus.“ (Pfasller S.87) Weil mit dem Aufkommen des Bekenntnisses die Entstehung asketischer Ideale verbunden ist, meint Pfaller, steckt hinter der vermeintlich realen Triebbeherrschung der Zivilisierten lediglich die Realität von Wünschen nach einer solchen.

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