Kapitel 14
Die Mentalität der Primitiven (Lévy-Bruhl)

Gehört zur Religion eine primitive Mentalität, wie wir sie bei den sog. Primitiven, z.B. den Ureinwohnern Australiens fanden? Sie scheinen durchweg in einer anderen Welt zu leben als wir mit unserem rationalen Bewusstsein.

Mit Benjamin Nelson (Der Ursprung der Moderne) lassen sich drei Bewusstseinstypen unterscheiden: 1. den sakro-magischen, 2. den glaubensförmigen und 3. den rationalisierten Bewusstseinstyp. Diesen drei Bewusstseinsformen entsprechen drei Weisen der Vorstellungsorientierung. Es ist dabei davon auszugehen, dass der Mensch ein von Vorstellungen geleitetes Leben führt, führen muss. Er lebt mit Bewusstsein. Denn, wie Freud sagt: Er ist ein triebgehemmtes Tier. Seine Vorstellungen betreffen zunächst Triebziele, Trieberfüllungssituationen. Sie virtualisieren sie. Trieberfüllung kann und muss aufgeschoben werden – um vorstellungsmotivierte Arbeit zu ermöglichen, d.h. zu überleben.

„Der Mensch ersetzt so die artspezifische Umwelt durch eigene aktive Anpassung der Umwelt. Er schafft Zweite Natur , um mittels ihrer in der Ersten zu überleben. Solche Domestikation der Natur, der inneren Triebnatur wie der äußeren, in der Arbeit bringt Triebüberschuss mit virtualisierbaren (vorstellbaren) Triebzielen und einer Vorstellungswelt imaginärer Distanz. ... Rituelle kollektive Handlungen scheinen erst das triebmäßige Handeln im Sinne einer kooperativen Mangelbehebung zwecks Ernährung und Fortpflanzung durchbrochen zu haben. Die solches Rituale begleitenden Vorstellungen ... kompensieren das Gefühl der Getrenntheit vom tierischen Paradies instinktiver Sicherheit des Verhaltens. ... Die Bewusstseinstypen sind also Weisen der Überwindung der Getrenntheit vom Ursprung, vom Anderen wie dem Naturzusammenhang, welche Trennung der Mensch gemäß seiner spezifischen Morphologie und weiter seiner von Triebüberschuss bzw. –aufschub gespeisten Vorstellungswelt erfahren muss. Es sind Weisen der virtuellen Herstellung der Einheit, die mit dem menschlichen Leben verloren scheint.“ (G. Schulte, 200 Jahre Vernunftkritik. Zur Wandlung des Rationalitätsproblems seit Kant, S.11 ff)

B. Nelson unterscheidet „drei Formen der Vorstellungsorientierung, drei Versuche, das Individuum in den gesellschaftlichen und kosmischen Zusammenhang zu integrieren, oder: drei Formen der Teilhabe am Ganzen, der Herstellung der Einheit, der Aufhebung der Getrenntheit“ (ebenda S. 13): 1. Leiblich rituelle Teilhabe am Ganzen als genealogisch-kosmischer Ordnung. 2. Psychisch-meditative Teilhabe an naturtranszendenter, göttlicher Ordnung. 3. Kognitiv-diskursive Teilhabe. Zu letzterer gehört das rationalisierte Bewussten. Es bedeutet diskursive Vorstellungskollektivierung im Unterschied zu mystisch-erlebnishafter oder dogmatisch-verkünderischer Informierung über die Normen und die kosmische Ordnung im sakro-magischen und im glaubensförmigen Bewusstsein. Die beiden letzteren Bewusstseinstypen gehören zur sog. primitiven Mentalität, der Mentalität der Primitiven.

Davon handelt nun Lévy-Bruhl (Das Denken der Naturvölker 1910, Die geistige Welt der Primitiven 1922, Die primitive Mythologie 1935). Dass er mit der von ihm analysierten primitiven Mentalität das Religiöse überhaupt und insbesondere Christentum und Judentum kennzeichnet, dass hat er in seinen Büchern nicht kundgetan. „Wohl um Angriffen vorzubeugen“, meint Evans-Pritchart. Dieser hat aus Gesprächen mit Lévy-Bruhl erfahren: „Für ihn waren auch Christentum und Judentum Aberglauben, Zeichen für prälogische und mystische Mentalität; sie mussten es nach seiner Definition sein.“ (Evans-Pritchard S.135)

Prälogische (oder: abergläubische) und mystische Mentalität findet sich zumindest rudimentär auch beim heutigen Menschen. Woher sonst kommt es, dass uns der Zauber von Sagen und Märchen nicht unberührt lässt. „In diesen Märchen“, schreibt Lévy-Bruhl (am Ende von La mythologie primitive, Paris 1935) und nennt ´Rotkäppchen´, ´der gestiefelte Kater´ und ´Aschenbrödel´, „werde wir in eine Welt versetzt, die ebenso fluid ist wie die Welt der Mythen Australiens und Neuguineas, ebenso unvereinbar ist mit den Naturgesetzen und den logischen Forderungen unseres Denkens. Dennoch wenden wir uns von diesen Märchen nicht ab, als wären es kindische Erfindungen. ... Was einer Erklärung bedarf, ist nicht, dass in vielen mehr oder weniger primitiven Sozietäten die Menschen in ihrer Herzenseinfalt an die Wahrheit des größten Teils dieser Märchen glauben, sondern im Gegenteil, warum man in der unseren schon seit langem nicht mehr an sie glaubt.“ (S.316 f.) Die fluide Welt ist eine solche, „in der unsichtbare Mächte sich ständig in den Ablauf der Erscheinungen einmischen und in der es darum nichts physikalisch unmögliches gibt.“ (Lévy-Bruhl, La mythologie primitive S.239)

Was wir für ein Wunder und für unwahrscheinlich halten, geschieht für die Eingeborenen in der gleichen Ebene der Wirklichkeit, in der sich die alltäglichen Erscheinungen beobachten lassen. „Es sei damit nicht gesagt, dass sie diese nicht für etwas Außer gewöhnliches halten. Aber das Außergewöhnliche ist ein Teil dessen, was auf normale Weise geschieht. Die mystische Einstellung ihres Geistes und die mit dieser verbundenen Denkgewohnheiten bewirken, dass die unmittelbaren Gegebenheiten der Erfahrung bei ihnen zahlreicher sind als bei uns.“ (Lévy-Bruhl S.295)

Warum nun ist unsere Welt so verarmt? - „Der Grund dafür liegt zweifellos, wenigstens zum Teil, in dem rationalen Charakter der vom klassischen Altertum geschaffenen und uns vermachten Zivilisation. Aus der als gültig anerkannten Erfahrung wurden nach und nach alle Gegebenheiten, die sich nicht nachprüfen und bewahrheiten lassen, das heißt alle Gegebenheiten der mystischen Erfahrung ausgeschlossen, in denen sich die Wirkung unsichtbarer und übernatürlicher Kräfte offenbart. ... Eine solche Ausschließung birgt in sich, obwohl sie rational ist, oder vielmehr gerade weil sie rational ist, selbst dort, wo man an sie gewöhnt ist, einen Zwang. Wenn unsere natürlichen Bedürfnisse sich selber überlassen blieben, würden sie dem Geist ganz andre Bahnen weisen. Um sie unablässig vorzubereiten, muss man sie in all ihren Äußerungen, selbst den unbedeutendsten, ständig beobachten und überwachen und sich selber gewissermaßen Gewalt antun. Hierin liegt die verborgene Ursache der Bezauberung, die uns so sehr zu den Märchen der Folklore hinzieht, daher kommt auch deren Verlockung. Wenn wir ihnen lauschen, hört der Zwang auf, werden wir die Gewalt los.“ (Lévy-Bruhl S.317)

Der glühend gläubige Religionsphilosoph Leo Schestow preist in seinem Aufsatz ´Mythos und Wahrheit. Zur Metaphysik der Erkenntnis´ (in: L. Schestow, Vernunft und Offenbarung) begeistert seinen Freund Lévy-Bruhl, weil dieser die befreiende Mythe über die zwanghafte Erkenntnis, weil er die affektive Kategorien über die intellektuellen gesetzt habe. Schestow schreibt: „Die Erkenntnis, die sich uns als Zwang, als Gewalt über den Geist enthüllt, die Mythe als die Atmosphäre, in welcher der unterdrückte Geist frei wird und sich entspannt, und im Zusammenhang damit eine neue ´Erfahrung´, neue ´unmittelbare Gegebenheiten des Bewusstseins´, eine neue ´Wirklichkeit´ und neue Möglichkeiten, die sich demjenigen eröffnen, bei dem die ´affektive Kategorie´ die seit Jahrhunderten eingeimpften intellektuellen Kategorien durchbricht – das sind die Ergebnisse, zu denen der berühmte französische Gelehrte nach langjährigem Studium des Geisteslebens primitiver Völker gelangt ist. .... Wir entdecken erstmals die Wirklichkeit, und zwar jene, die wir am notwendigsten brauchen – nicht die durch unveränderliche Gesetze und sogar durch den Satz vom Widerspruch gefesselte, sondern die ´fluide´ Wirklichkeit.“ (S.200 f)

Evans-Pritchard schätz Lévy-Bruhl als den reinen Theoretiker (der nie einen Primitiven gesehen hat), weil er keine ´Geschichten´ über die Entstehung von Magie und Religion erzählt, sondern Magie und Religion als Gegebenheiten hinnimmt und ihre Struktur und den Beweischarakter dieser Struktur für eine spezifische Mentalität aufzeigt. Evans-Pritchard diskutiert (in seinem Buch Theorien über primitive Religionen, S.124 ff) Lévy-Bruhls 5 Schlüsselbegriffe für die Strukturbestimmung primitiver Mentalität, d.h. magisch-religiöser (Nelson, s.o., sagte: sakro-magischer) Denkweise: 1. prälogisch, 2. Mentalität, 3. Kollektivvorstellung, 4. mystisch und 5. Partizipationen.

1. Prälogisch (man kann auch sagen abergläubisch) ist die magisch-religiöse Denkweise. Nicht dass die Primitiven nicht zusammenhängend denken könnten! Nur sind die meisten ihrer Vorstellungen nicht mit einer kritisch-wissenschaftlichen Weltanschauung vereinbar. Die primitive Mentalität weicht Widersprüchen aus, nimmt sie nicht wahr, z.B. in der Aussage „der Mann ist ein Leopard“. Das heißt aber nicht, wie es Lévy-Bruhl nahe legt, dass das primitive Denken sich nicht an den Satz des Widerspruchs hält und unlogisch ist, sondern nur, dass es von Prämissen ausgeht, die für uns absurd sind, oder dass, wie beim Leopard-Mann, Dinge in verschiedenen Zusammenhängen verschieden aufgefasst werden. „In einem Sinn ist etwas ein Ding, in einem anderen ist es mehr als dieses Ding.“ (Evans-Pritchard S.134)

So muss auch zwischen einer objektiven Kausalerklärung und einer mystischen Erklärung nicht notwendig ein Widerspruch bestehen (Lévy-Bruhl sieht es allerdings so). Die beiden Erklärungen können kombiniert werden (meint Evans-Pritchard). „Die Doktrin beispielsweise, dass Tod durch Hexerei verursacht wird, schließt nicht die Beobachtung aus, dass ein Mann durch einen Büffel getötet wurde. Für Lévy-Bruhl besteht hier ein Widerspruch, für die Eingeborenen nicht. Die Eingeborenen analysieren jedoch die Situation sehr genau. Sie wissen sehr wohl, dass der Mann von einem Büffel getötet worden ist, meinen aber, dass er nicht getötet worden wäre, wenn er nicht behext gewesen wäre. Warum sonst hätte er getötet werden sollen; warum er und nicht ein anderer; warum von diesem und nicht von einem anderen Büffel; warum gerade zu dieser Zeit und an diesem Ort? ... Man wird zugeben, dass hier kein Widerspruch liegt, dass im Gegenteil die Erklärung durch Hexerei die natürliche Ursache durch das, was wir als Zufallselement bezeichnen würden, ergänzt. ... Die objektiven Eigenschaften von Dingen und die natürlichen Ursachen von Ereignissen können bekannt sein (z.B. bzgl. Zeugung oder Drogen), werden aber gesellschaftlich nicht betont oder werden geleugnet, weil sie mit irgend einem sozialen Dogma konfligieren. ... Nach einhelliger Meinung aller Anthropologen machte Lévy-Bruhl die Primitiven viel abergläubischer (um dieses populäre Wort für ´prälogisch´ zu benutzen), als sie in Wirklichkeit sind.“ (Evans-Pritchard S.134 f) – Über Aberglauben als ein durch besseres Wissen aufgehobener, in der Schwebe gehaltener Glaube siehe das nächste Kapitel!

2. Mit Mentalität sind die Kategorien des Denkens gemeint, nicht eine individuelle Fähigkeit. Die Kategorien des prälogischen Denkens oder der primitiven Mentalität sind affektive – statt rationale. D.h. die Differenz zwischen uns und den Primitiven ist keine biologische oder psychologische, sondern eine soziale (sofern, wie auch Durkheim meint, Denkstrukturen soziale Tatsachen sind).

3. Die Denkmuster, die in ihrer Gesamtheit die Mentalität eines Volkes ausmachen, sind Kollektivvorstellungen, sagt Lévy-Bruhl, und zwar bei den Primitiven: mystisch-religiöse statt kritisch-wissenschaftliche Vorstellungen.

4. Mystisch heißt hier soviel, wie: die Kollektivvorstellungen sind von nicht wahrnehmbaren Gewalten beherrscht. Sobald der Primitive ein Objekt wahrnimmt und es durchaus so sieht wie wir, „tritt die mystische Idee von diesem Objekt zwischen ihn und es und überformt seine rein objektiven Eigenschaften. ...Die mystische Wahrnehmung ist unvermittelt. Der Primitive sieht nicht etwa einen Schatten und wendet dann die Interpretation seiner Gesellschaft darauf an, der zufolge es sich um seine Seele handelt. Wenn er seinen Schatten wahrnimmt, nimmt er seine Seele wahr. Wir verstehen Lévy-Bruhl am besten, wenn wir sagen, dass ihm zufolge religiöse Vorstellungen in der Geschichte der Menschheit erst dann auftreten, wenn Wahrnehmung und Vorstellung auseinandergetreten sind. Wir können dann sagen, dass eine Person einen Schatten sieht und glaubt, es sei ihre Seele. Die Frage des Glaubens stellt sich bei primitiven Völkern nicht. Der Glaube ist in dem Schatten enthalten. Der Schatten ist der Glaube. Ebenso sieht ein Primitiver nicht einen Leoparden und glaubt dann, das sei sein Totem-Bruder. Er nimmt einfach seinen Totem-Bruder wahr. ...Er geht noch weiter. Er sagt nicht nur, dass die Wahrnehmungen der Primitiven mystische Vorstellungen inkorporieren, sondern auch, dass die mystischen Vorstellungen die Wahrnehmungen hervorrufen. ... Die Primitiven merken auf Phänomene wegen der mystischen Qualitäten, die die Kollektivvorstellungen ihnen verliehen haben. Die Kollektivvorstellungen kontrollieren also die Wahrnehmung und sind zugleich mit ihr verschmolzen.“ (Evans-Pritchard S.127f)

5. „Das logische Prinzip dieser mystischen Vorstellungen nennt Lévy-Bruhl das Gesetz der mystischen Partizipationen, die entsprechend den Vorstellungen ebenfalls mystisch sind. ... Einige primitive Völker partizipieren an ihren Schatten, so dass, was ihre Schatten betrifft, auch sie betrifft. Andere primitive Völker partizipieren an ihren Namen und geben sie deshalb nicht bekannt: denn wenn ein Feind den Namen in Erfahrung brächte, hätte er gleich zeitig dessen Inhaber in seiner Gewalt.“ Diese Denkmuster, in denen und durch welche mystische Beziehungen hergestellt werden, werden von den Individuen erlernt und nicht aus eigenen Beobachtungen deduziert.

Seine Darstellung von Lévy-Bruhls Schlüsselbegriffen abschließend erklärt Evans-Pritchard: „Lévy Bruhls Diskussion des Gesetzes der mystischen Partizipation ist vielleicht der wertvollste und originellste Teil seiner Theorie. Er war einer der ersten, wenn nicht überhaupt der erste, der darauf hinwies, dass das primitive Denken, das uns bei isolierter Betrachtung so fremd und manchmal sogar idiotisch erscheint, Bedeutung erhält, wenn es als Teil von Ideen- und Verhaltensmustern gesehen wird, wo jeder Teil seine intelligible Beziehung zu den anderen hat. Er erkannte, dass Werte Systeme bilden, die ebenso kohärent sind wie die logischen Konstruktionen des Intellekts; dass es nicht nur eine Logik des Intellekts gibt, sondern auch eine des Gefühls, die auf einem anderen Prinzip gründet.“ (S.130)

Evans-Pritchard schreibt (und referiert damit Vilfredo Pareto in Trattato di sociologia generale 1916): „Einige Aktivitäten erfordern strenges rationales (logisch experimentelles) Denken, ... doch sie können nur ausgeführt werden, wenn es ein gewisses Maß an Solidarität zwischen den beteiligten Personen gibt, Sicherheit und Ordnung. Die aber hängen von gemeinsamen Gefühlen ab, die auf moralische, nicht auf technische Bedürfnisse zurückgehen und auf Imperative und Axiome, die nicht auf Beobachtung und Experiment gegründet sind. Sie sind Konstruktionen mehr des Herzens als des Kopfes.“ (S.163)

În die Kategorie nicht-logischer Denkweisen, d.h. von Handlungen, bei denen die Mittel nicht rational den Zwecken angepasst sind, gehört auch die Religion (z.B. das Gebet). Fortschritte in Wissenschaft und Technik haben die Magie überflüssig gemacht. Die Religion ist geblieben, d.h. vom sakro-magischen Bewusstsein ist das sakrale geblieben, ihre soziale Rolle ist immer umfassender geworden, sie schließt immer mehr Menschen ein, die nicht, wie in primitiven Gesellschaften, durch Familie, Verwandtschaft und die Teilnahme an gemeinsamen Aktivitäten miteinander verbunden sind.“ (S.162)

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