Kapitel 12
Die Sehnsucht nach der bikameralen Psyche (Jaynes)

Jaynes meint: Religion ist das Relikt einer älteren Mentalität: der bikameralen Psyche, einer Psyche ohne eigentliches Selbstbewusstsein. Selbstbewusstsein, wie wir es haben (nämlich nicht nur affektives, sondern reflexives Selbstbewusstsein mit Selbstzuschreibung), gibt es erst seit dem Zusammenbruch der bikameralen Psyche. The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind ist denn auch der Titel des Buches von 1976, in dem Jaynes das bikamerale Paradigma konzipiert und zu dieser Einschätzung der Religion kommt (dt. unter dem Titel Der Ursprung des Bewusstseins, 1993). Relikt der bikameralen Pyche, was die Religion sein soll, meint, dass die bikamerale Psyche nicht gänzlich verschwunden, vielmehr rudimentär erhalten blieb. Andere, aber alle auch in den Umkreis des Religiösen gehörende Phänomene wie Telepathie, Hellsehen, Trance, Hypnose, Schizophrenie oder Besessenheit zeugen davon.

Hauptmerkmal der bikameralen Psyche ist eine gewisse Telepathie = In-Mitleidenschaft-gezogen-werden-könne durch Abwesendes. So definiert Sloterdijk, der schreibt (in Medienzeit, S.77): „Es gehört zu den Grunderfahrungen der natürlichen Telepathie, dass menschliche Individuen die Stimmen von Abwesenden, möglicherweise toten Vorfahren und Lehrern im Ohr tragen, die sich bei akuten Problemlagen aus den zerebralen Phonogrammspeichern melden und als Berater oder Psychagogen in einen laufenden Entscheidungsprozess einmischen.“

Heutzutage sind Stimmenhören und den-Stimmen-Folgen eher Ausnahmeerscheinungen. Nach Jaynes waren die Menschen (in unserem Kulturraum) bis zur sog. Achsenzeit (etwa 700 v.d. Z.) normaliter Stimmenhörende und Stimmenhörige. Formen verminderten Bewusstseins waren die Regel. Durch sie definiert Jaynes sein bikamerales Paradigma:

In gewisser Weise war der archaische, bikamerale Mensch ein Doppelwesen: 1. Lenker und Leiter oder Gott und 2. Gefolgsmann oder Mensch. Der Lenker und Leiter oder Gott meldete sich in den halluzinierten Stimmen. Stimmenhören (audire) heißt auch schon Gehorchen (oboedire = jemand von Angesicht zu Angesicht zuhören). (S.125) Für Gehörshalluzinationen gibt es eine angeborene Basis im Nervensystem. Auch Taube können Gehörshalluzinationen haben (S.117). Jaynes nennt die halluzinierten ´Götterstimmen´ neurologische Imperative. Denn sie haben eine Basis im Gehirn bzw. der Gehirnstruktur. Sie werden aus der (normalerweise, von einem Teil der Linkshänder, bei denen die Hirnhälften vertauscht sind, abgesehen) rechten Gehirnhälfte über die Commissura anterior in die linke gesendet, die für die Sprache zuständig ist. „In der Frühzeit des Menschen mag die Stelle in der rechten, die dem Wernicke-Zentrum in der linken Gehirnhemisphäre entspricht, Direktiven produziert und ´in Stimmen´ übersetzt haben, die dann über die vordere Kommissur von der linken oder dominanten Hemisphäre ´gehört´ wurden.“ Unsere Kultur und Religion gründet auf diesen Direktiven. Denn in ihnen offenbarten sich die Götter den Menschen und ernteten Gehorsam, „weil sie der menschliche Wille waren“.

Das Amalgamieren erzieherischer Erfahrungen war eine Funktion der rechten Hemisphäre. Durch Erregung dieser rechtsseitigen Gehirnpartie wurden die Stimmen der Götter hervorgerufen.

„Die bikamerale Psyche ist eine Form von sozialer Kontrolle – diejenige Form der sozialen Kontrolle, die den Übergang der Menschheit von Jäger- und Sammler-Kleingruppen zu ackerbauenden Gemeinschaften möglich machte. Die bikamerale Psyche mit ihren göttlichen Kontrollinstanzen bildet das Endstadium der Evolution der Sprache. Und in dieser Entwicklung liegt der Ursprung der Kultur.“ (159) „Die Zivilisation ist die Kunst des menschlichen Zusammenlebens in Städten von solcher Größe, dass nicht mehr jeder jeden kennt. ...Wir haben die Hypothese aufgestellt, dass es die bikamerale Psyche war, die die sozialorganisatorischen Rahmenbedingungen dafür schuf.“ (S.185) Die für die bikamerale Psyche typischen Gehörshalluzinationen waren eine Nebenwirkung des Sprachverstehens. Denn wie anders, als durch Wiederholung in inneren Sprachhalluzinationen konnten die Leute, die ja keine narrativierendes und reflektierendes Selbstbewusstsein hatten, ein ihr Verhalten betreffendes Kommando wirksam bleiben lassen? „Erlernte Handlungsweisen ohne Endhandlung müssen durch einen äußeren Faktur, der nicht zur Handlung selbst gehört, aufrecht erhalten werden. Und Sprachhalluzinationen könnten der Faktor sein, der das leistet.“ (S.169 f) Unter dem Selektionsdruck langwieriger Aufgaben wurde das artikulierte Sprechen nur mehr einseitig (links) repräsentiert, „damit die andere Seite frei blieb für die halluzinierten Stimmen, die dieses Verhalten aufrecht erhalten.“ (S. 170)

Ausgelöst wird die halluzinatorische Dominanz der rechten Hemisphäre durch Stress – heute wie damals, wenn auch mit veränderter Auslösungsschwelle. So meint Michael Persinger, der die neurologische Basis religiöser Erfahrungen (wie Jaynes sie in seinem bikamerale Paradigma anführte) erforscht, dass religiöse Erfahrungen aufträten, wenn z.B. die vertraute Umgebung zusammenbricht. Die Aktivität der rechten (ängstlichen) Hemisphäre nehme dann zu, erzeuge Stress oder Schmerz, so dass sich das Gehirn schützt, indem es die linke Hälfte aussschalte (den Sinn für das Selbst). (Vgl. Schnabel / Sentker: Wie kommt die Welt in den Kopf? S.239)

Janes meint, damals dürfte der durch den Tod eines Menschen bewirkte Stress genügt haben, um die die halluzinierte Stimme des Toten zu evozieren. „Vielleicht ist das der Grund, warum in so vielen prähistorischen Kulturen die Köpfe der Toten vom Rumpf getrennt oder die Beine gebrochen und gefesselt wurden, warum man so häufig Esswaren als Grabbeigaben findet und warum die Funde so häufig darauf hindeuten, dass ein Leichnam zweimal bestattet wurde, beim zweitenmal (nach Erlöschen seiner Stimme) in einem Kollektivgrab.“ (S.177) So mag ein toter König in den Halluzinationen seines Volkes weiter Befehle gegeben haben, weiter gelebt haben. „Ist der König tot, wird er zum lebendigen Gott!“ (S. 179) Das königliche Grabhaus wird zum Gotteshaus. In den Tempeln, Kirchen stehen Statuen anstelle des Leichnams. Auch hier halluzinieren die königsgläubigen göttliche Befehle - ´neurologische Imperative´, wie Jaynes sagt. Die Götter waren wohl ursprünglich nichts anderes als die Toten.

Auch heute noch ist die religiöse Erfahrung vom bikameralen Paradigma bestimmt. Aber diese Art Erfahrung ist mehr oder weniger marginal. Unser Bewusstsein ist meistes Selbstbewusstsein. Bikameralität ging weitgehend verloren. Irgendwann haben die Götter uns verlassen. So war es in Platons Mythos des Politikos (s.o. Kap. 11), so bei Heinsohn, und zwar im Zuge großer sozialer und kosmischer bzw. terrestrischer Veränderungen. Das Thema schlechthin der Weltreligionen ist: Warum haben die Götter uns verlassen, warum wurden wir aus dem Paradies vertrieben, warum redet Gott nicht mehr zu uns? Nun zunächst gibt es Vereinzelte, die noch Gottes Stimme hören: Propheten, Schamanen usw.. Es gibt Orakel, die Gottes Botschaften vermitteln. Dann gibt es Heilige Schriften, die Gottes Wort festgehalten haben wollen. Aber gemeinhin die Menschen, die hören die Götterstimmen nicht mehr, es sei denn bei Ritualen, im Rausch, im Trance, unter Drogen.

Und wenn die Götter schweigen, müssen sie da nicht verärgert sein, uns feindselig gesinnt? „Aus dieser Logik entspringt die Idee des Bösen, die beim Zusammenbruch der bikameralen Psyche erstmals in der Menschheitsgeschichte auftaucht.“ (S.284)

Aber durch den Zusammenbruch der bikameralen Psyche, vielleicht durch eine sich verbreitende hirnstrukturelle Veränderung (in der Verbindung der Hirnhemisphären durch die vordere Kommissur) entstand unser subjektives Bewusstsein, unser Ichsein oder Selbstsein. Entstand es womöglich in der Hinterlist (man denke an Odysseus als ersten modernen Menschen im Unterschied zu den Menschen der Ilias, vgl. S. 336)? Tiere und bikamerale Menschen seien dazu nicht fähig, meint Jaynes. „Auf lange Sicht angelegte Täuschungsmanöver setzen die Erfindung eines Selbst (qua Analogon) voraus, das ganz anders zu ´tun´, etwas anderes zu ´sein´ vermag als das, was die Person in der Sicht ihrer unmittelbaren Umgebung tatsächlich ist und tut.“ (S.270, vgl. zur List und Lüge bei Affen Volker Sommer Lob der Lüge)

Die Bibel, insbesondere das Pentateuch, verdankt sich der „quälenden Sehnsucht eines subjektiv bewussten Volkes nach der verlorenen Bikameralität: Nichts anderes ist Religion. Und ausgeführt wurde die Sache zu eben der Zeit, als sich zumal Jahwe nicht mehr sonderlich häufig und deutlich vernehmen ließ.“ (S.362. Vgl. 4 Mose 12, wo Mirjam, Aaron und Mose die Stimme des Gottes gehört haben, sie sich aber nicht einig sind darüber, wer die echte Stimme gehört hat.) „Indem dieser letzte der elohim“ (= Götter. In allen einschlägigen Bibelübersetzungen stets falsch mit dem Singular Gott = el übersetzt, um keinen Zweifel am Eingott aufkommen zu lassen) seine halluzinatorischen Qualitäten ablegte und nicht länger die Form einer andere unzugänglichen Stimme im Nervensystem weniger semi-bikameraler Menschen behält, sondern zur Schrift auf steinernen Tafeln wird, verwandelt er sich in Gesetz und Recht – in etwas Unwandelbares und allen Zugängliches, etwas für alle Menschen – ob König oder Viehhirt – gleichermaßen Verbindliches, etwas Universelles und Transzendentes.“ (S.367) „Das Alte Testament ist im Wesentlichen die Geschichte vom Absterben der bikameralen Psyche, vom allmählichen Rückzug der noch übrig gebliebenen elohim ins Schweigen, von darauffolgender Desorientiertheit und tragischer Gewaltsamkeit, von dem letztlich vergeblichen Versuch, der elohim in ihren Propheten wieder habhaft zu werden, bis sich schließlich in der Idee des Handelns nach Gesetz und Recht ein Ersatz auftut. Aber wie ein Gespenst geht das uranfängliche unbewusste Wesen noch immer in der Seele um; sie zergrübelt sich in dem Bemühen, die verlorengegangene Einheit mit der autoritativen Instanz wiederzufinden; und das Verlangen – das tiefe und auszehrende Verlangen – nach göttlichem Willen und Zuwillensein dem Göttlichen lässt uns heutige nicht los.“ (S.380 f)

Gleichwie der Hirsch lechzt nach den Wasserquellen,
also lechzt meine Seele nach euch, ihr Götter (= elohim)!
Meine Seele dürstet nach Göttern, nach starken lebendigen Göttern!
Wann werd´ ich dahinkommen, dass ich der Götter Angesicht schaue?

(Psalm 42,2f)

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