Kapitel 11
Die Erschaffung der Götter (Heinsohn)

In seinem Buch Die Erschaffung der Götter. Das Opfer als Ursprung der Religion aus dem Jahr 1997 untersucht Heinsohn die Religion der Hochkulturen, die in der Bronzezeit entstanden, d.h. zwischen dem Ende des 3. Jahrtausends und dem Beginn des 1. Jahrhunderts v.d.Z. (Von einer Bronzezeit spricht man für Europa, Teile Nordafrikas, Vorder- und Zentralasien, China, z.T. Hinterindien, Indonesien.) Das zu erklärende Hauptmerkmal dieser Religionen ist das Menschenopfer, sind Tötungsrituale - z.B in Mittelamerika bei den Olmeken gegen 1200 v. Ch. Die kolossalen Steinköpfe der olmekischen Frühkultur scheinen Symbole geköpfter Ballspieler zu sein.

Heinsohn: „Noch in der Kupfersteinzeit (Chalkolithikum), die – nach stratigraphischem“ (d.h. Gesteinsschichtung betreffenden) „Befund – der Bronze- bzw. Hochkulturzeit weltweit simultan und direkt vorausgeht, waren Kulte und Heiligtümer auf den häuslichen Bereich beschränkt.. Öffentliche Tempel mit einem Personal von Vollzeitpriestern gehörten noch der Zukunft an. Auch im abendländischen Raum sind für die Periode vor dem Palastfeudalismus spezielle Anlagen für rituelle Aktivitäten und besonders für wiederholte Aktivitäten, wie man sie für eine gemeindliche Praxis assoziieren würde, ungemein schwer zu finden. Aber schon in den ältesten religiösen Überlieferungen des bronzezeitlichen Ägypten, in den sog. Pyramidentexten, übernehmen die Empfänger der Kulte und die Rezitatoren der Texte die Rolle von Göttern. Der Grund für den weltweit beobachtbaren Bruch mit einer Zeit, deren Religion sich noch im wesentlichen auf Toten- und Jagdtierversöhnungsrituale beschränkt, muss aufgeklärt werden, wenn das Tötungsritual seine Rätselhaftigkeit verlieren soll.“ (S.48)

Denn verständlich am Opfer ist das do ut des (Ich gebe, damit du gibst). D.h.: Ich gebe etwas Wertvolles her, damit nicht ich (der ich mir wertvoller bin als alles andere) selbst genommen werde. Auch verständlich ist das Blutopfer sekundären Typs: das Gefolgschaftsopfer (z.B. beim Pharaonentod). Verständlich auch das Vorbeugungs- und Beschwichtigungsopfer, z.B. Verzicht auf Blutverzehr bei Tierschlachtung. Aber unverständlich ist, wieso Götter zu Ehren Menschen und Tiere geschlachtet und verspeist werden, unverständlich die Enthauptungs- und Herzentfernungsrituale in Alt-Mexiko.

Neben dem Menschenopfer kennzeichnen Astralmythen, Priesterfürsten und Sakralarchitektur (Tempelbezirke) diese in der Bronzezeit aufkommenden Religionen. Grund für diese Religionen und der zu ihnen gehörenden komplexen Gesellschaften war nach Heinsohn die Erschaffung der Götter, und der Grund dafür waren Katastrophen. „Denn die Götter in Menschen- oder Tiergestalt kommen erst zur Welt, nachdem kosmische Verheerungen den Himmel verdunkelt, Berge umgestürzt und ganze Landstriche unter Wasserfluten begraben hatten. Die Überlebenden der Vulkanausbrüche, Überflutungen und Meteoriteneinschläge konnten ihre Panik aber weder durch Flucht noch durch Angriff oder Verhandlung bewältigen. Verstört und umdüstert suchten die Geretteten nach Halt. In dieser Situation fanden einzelne, archetypische Priestergestalten einen therapeutischen Ausweg: Wie Kleinkinder ließen sie ganze Gemeinwesen die überwältigenden Eindrücke heilend nachspielen. Texte und Bilder aus dem Altertum zeugen davon, wie aufwendig geschmückte und maskierte Spieler Himmelskörper symbolisierend – im Ritual gegeneinander antraten. Dabei wurden die Darsteller – Tiere oder Menschen – enthauptet, zerstückelt, kastriert und verbrannt, um sie einem stürzenden Schweifstern gleichzumachen. Für das Wiedergewinnen der seelischen Balance durch die kathartische Abfuhr der gestauten Wut beim heilig-heilenden Töten zahlten die so Erlösten jedoch mit Schuldgefühlen“ (wie bei Freuds Urvatertötung). „ Die Leichen der Opfer wurden deshalb in vollem Astralkostüm erhöht, um vor ihnen Versöhnungsgesten vollziehen zu können.“ (Wie bei Girard vor dem heiliggesprochenen versöhnenden Opfer! Bei Heinsohn sind es kosmische Kollisionen und entsprechende Angst, und nicht menschliche Aggressivität wie bei Girard, die das Opferritual nötig machen.). „Bei dieser ´Anbetung´ erschufen die Menschen die Götter.“ (Klappentext Heinsohn, Die Erschaffung der Götter))

Die empirische Voraussetzung Heinsohns ist also die der kosmischen Katastrophen, Kataklysmen (Überschwemmungen) und Vulkanausbrüche vor und noch in der Bronzezeit (also bis in die Zeit um 700 v.d.Z.). Hier folgt er Immanuel Velikovsky mit seinem Buch Welten im Zusammenstoß (Stuttgart: Kohlhammer 1951) – Demnach waren ungewöhnliche Umstände im Sozialen und in der Natur Anlässe der Tötungskultentwicklung. In den Ritualen werden Sintflut und Weltenbrand gespielt. (Bei Girard spielen die Kulte und Rituale die mimetische Krise nach und enden im Opfer.) Dass erst nach der großen Flut solche Kulte eingerichtet wurden, sagen sumerische Texte. Bei Theophrastus steht: „Erst in Zeiten ungewöhnlicher Not unseres Geschlechtes weihte man Lebendiges zum Opfer.“ (Heinsohn S.38) Und Platon erzählt im Kritias 112 a von vier Weltaltern bzw. vier Katastrophen, für die irreguläre Himmelskörper die Ursache waren. Aristoteles schreibt: „Von den Alten und den Vätern aus uralter Zeit ist in mythischer Form den Späteren überliefert, dass die Gestirne Götter sind.“ (Metaphysik 1074 b1) Nach dem von Platon im Timaios 20c erzählten Mythos kreuzte damals der ehemalige Planet Phaeton die Bahn seines Vaters Helios und zerstörte die Erdoberfläche durch Feuer. Im Politikos 269-274 weiß der Mythos von zwei Weltzeiten mit jeweils entgegengesetztem Weltumlauf, der Zeit der Götter und der Zeuszeit danach, wo die Menschen sich selbst überlassen sind. Denn bei der Umkehr des Weltlaufs (der Erddrehung?) gab es einen großen Stoß mit Getümmel, Verwirrung und Verderben unter allerlei Arten des Lebendigen. Die Götter ließen daraufhin „die Teile der Welt los von ihrer Aufsicht und Besorgung“ (273).

Das Opfer sei nun die spieltherapeutische Kollektivheilung gewesen für das kosmisch umdüsterte Gemeinwesen – durch Abfuhr von Abwehraggression (nicht wie bei Girard intraspezifischer Aggression). Im Hinschlachten der Stellvertreter der Götter (= der stürzenden Himmelskörper) wird die krankmachende Wut verdampft. Die kultische Handlung hat, wie schon Huizinga bemerkte, aber es nicht aufklärte (meint Heinsohn S.73 zu Huizinga Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Dazu weiter unten!), ein geistiges Element mehr als das Spiel: die „Erinnerung an einen elementaren Vorgang in der Urzeit“ (wie bei Freud und Girard) „und eine Wiedererweckung jener Ergriffenheit“ (A.E. Jensen, Mythos und Kult bei den Naturvölkern, dtv 1991, zitiert bei Heinsohn S.73). Alles, was einen überwältigenden Eindruck macht, wurde nachgespielt, erklärt Heinsohn: Verbrennen von Haaren, In-die-Hosen-Machen, Angsterektion (bislang „die peinlichsten Rätsel der Opferforschung“! S.85). „Ging dem rituellen Haarverbrennen ein kosmischer ´Haar´-Verlust vorher, der als Anfang des Endes eines stürzenden Himmelkörpers gedeutet wurde? Homers Athenebeschreibung spräche keineswegs gegen eine Astralszene: ´Gleichwie ein Stern ... dem Heere gewaffneter Völker zum Zeichen strahlend brennt und im Flug unzählige Funken umhersprüht, also senkt hineilend zur Erde sich Pallas Athene zwischen die Heere hinab; und Staunen ergriff, die es ansahn.´“ Aus der Astronomiegeschichte wird berichtet: „Kometen werden wie monströse menschliche Gesichter gesehen.“ (S.88)

Aus dem Darstellbarmachen der kosmisch-göttlichen Geschehnisse (und das ist das Wesentliche der Religionen) gehen die Tänze, die Tragödie und Komödie und die bildenden Künste (besonders nachkatastrophisch die Götterskulptur als erhöhte Leiche des Himmelsmächtespielers, vgl. S.122) hervor. Huizinga ließ Religion, Kunst, Sport usw. aus dem Spiel hervorgehen – durch eine Art Unterjochung des Spiels. Er schreibt (Homo ludens S.25): „Nach und nach dringt die Bedeutung einer heiligen Handlung in das Spiel ein. Der Kult pfropft sich dem Spiel auf.“ Heinsohn: „Gewiß liegen die psychischen Potenzen des Kinderspiels vor dem Kult der Erwachsenen.“ Aber: „durch das Abspielen kataklysmischer Eindrücke kommt es überhaupt erst zum Kult. Er entsteht als therapeutisches Verfahren.“ (Heinsohn S.97)

Warum kann es nicht beim gespielten Töten, wie auf dem Theater bleiben? Warum muß, wie bei Girard, der Urmord wiederholt werden? In der Heiligen Messe (= Massaker) wird Jesus ja auch nur - mystisch transsubstantialisiert - als Brot und Wein verzehrt? – Nach Heinsohn töten die Priester real Lebewesen, um Menschen von ihrem Trauma zu heilen, und nehmen die Schuld des Tötens auf sich. Die Gemeinde steht dafür in der Schuld des Priesters und hegt ihm gegenüber eine heilige Scheu. Die Hochachtung wird durch materielle Gaben abgetragen. Priesteradel entsteht. (S.101) Die Opferpriester entsühnen sich ihrerseits durch Selbstverstümmelung, Askese, Zölibat.

Erst nach dem Ende der Katastrophenzeit seien die Blutopfer einschränkt worden, meint Heinsohn. Man opferte vor den Götterbildern – siehe Messopfer. Mensch- und Blutopfer überhaupt wurde im Judentum schließlich verworfen. (Der entscheidende Akt des Blutopfers, das Schlachten, ist dem gewöhnlichen Juden untersagt.) Im Buddhismus ebenfalls. In Rom werden im Jahr 97 v.d.Z. Menschenopfer verboten. Paulus führt das Menschenopfer als Jesusopfer wieder ein – durch denselben religiösen Impuls wie bei Nero: Paulus sieht Himmelslicht, Nero einen Kometen.

Nach der kosmischen Beruhigung und dem Ende der großen Katastrophen entstand eine neue Auffassung des Himmels, welche die Symmetrie, Regelmäßigkeit und Konstanz der Naturvorgänge betonte. Die Gestirne auf ihren immer gleichen Bahnen waren göttlich, nämlich unveränderlich und ewig. In den Beobachtungen des Himmels versichert man sich des Endes der Katastrophen, des Endes der Zeit, als Merkur ein Satellit der Venus war. (Im griechischen Mythos gibt es die Jungfrauengeburt des Merkur aus der Venus.)

Der alte Jahwe-Kult war ein Merkur-Kult (vgl. Heinsohn S.148). Im monotheistischen Israel gab es immer wieder Rückfälle in den Astralkult. Noch König Menasse baute allem Heer des Himmel Altäre und ließ seinen Sohn durchs Feuer gehen (Könige 21, 3-6). Heinsohn (S.130): „Das Biderverbot aus den Zehn Geboten ist nichts anderes als die Unterbindung von Statuen, die für Himmelskörper oder irdische Naturgewalten stehen: ´Du sollst dir kein Bildnis machen in irgendeiner Gestalt, weder von dem, was oben am Himmel, noch von dem, was unten auf der Erde, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist. Du sollst sie nicht anbeten noch ihnen dienen.´ (5 Mose 5,8)“.

Das Christentum mit seiner Rückkehr des Jesus-Menschenopfers bringt auch wieder Apokalypsenangst (vgl. Mk 13:24; Lk 21:11; Off.d.J. 6:12). Vom „hell strahlenden Morgenstern“ als „Christus der Sieger“ heißt es in der Offenbarung des Johannes 19:11 ff: „Seine Augen sind eine Feuerflamme. ... Ihm folgte nach das Heer im Himmel auf weißen Pferden ... Und aus seinem Mund ging ein scharfes Schwert, dass er damit die Völker schlüge.“ Jesus droht. „Sonne und Monde werden ihren Schein verlieren, und die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte des Himmels werden ins Wanken kommen. Und es werden geschehen große Erdbeben und hin und her die Pestilenz und teure Zeit; auch werden Schrecknisse und große Zeichen vom Himmel her geschehen.“ (Mk 13:24 ff) – Also alles so wie in der Bronzezeit, der Katastrophenzeit, als die Blutopferreligionen entstanden. (Dass das Christentum, das wahre Christentum, am (Blut)Opfergedanken festhält, bestreitet Girard durch seine nicht-sakrifizielle Deutung des Christusopfers.)

Heinsohn erklärt den religiösen Judenhass ähnlich wie Freud, der meint: Die Juden geben nicht zu, Gott (den Vater) getötet zu haben. Die Christen tun es und lassen sich durch Jesus exkulpieren. Die Juden bleiben schuldig (s.o. Kap.9). Heinsohn: Die Juden machen das Ritual der Erregungsabfuhr nicht mit. So lassen sie bei den Christen, die das Ritual mitmachen, Zweifel an diesem bzw. Vergeltungsangst aufkommen und verderben den psychischen Genuss am Erregungsabfuhrritual. (S.167) Auch der Neid gegenüber den Juden hat damit zu tun: „Will man sich der oft als heikel empfundenen Frage nicht entziehen, warum bei geistigen, altruistischen und kreativen Ausnahmeleistungen Juden fünfzig- bis hundertmal häufiger vertreten sind, als das ihrem Anteil an der Weltbevölkerung entspricht, so müsste man wohl antworten: Die auch für Kinder schon geltende Unterbindung kollektiv gebilligter, weil religiös abgesegneter Formen von Aggressionsabfuhr (Opfer etc.) und Schuldgefühlsverflüchtigung (Beichte etc.) nötigt den jüdischen Nachwuchs zu individualisierter Sublimierung der ihm wie jedem anderen Nachwuchs eigenen Aggression. Es sind nun einmal Sorge um andere, Wahrheitssuche und schöpferisches Handeln, die – neben der eher körperorientierten Selbstbeherrschung, die im östlichen Buddhismus wichtiger wird – die drei akzeptierten Umformungsergebnisse solcher Emotionen bieten.“ (S.138 f)

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