Kapitel 10
Das Ende der Gewalt (Girard)

„Jede Gottheit und die Gemeinschaft selbst haben ihren Ursprung ... in einer immanenten und einmütigen Gewalt, in einem Opfer, das dieser Gemeinschaft angehört“, schreibt Girard (in seinem Buch von 1972 Das Heilige und die Gewalt.) Er folgt mit dieser Einsicht der, wie er sagt „größten anthropologischen Intuition unserer Zeit, der Intuition Emile Durkheims, dass das Gesellschaftliche und das Religiöse identisch sind“ (Das Ende der Gewalt, S. 84) und „Freuds ungeheurer Entdeckung“, „dass jede rituelle Praxis, jede mythische Bedeutung ihren Ursprung in einem realen Mord hat.“ (Das Ende der Gewalt, S. 292)

Girard erklärt (in Das Heilige und die Gewalt, S. 139): „Die Präsenz des Religiösen im Ursprung aller menschlichen Gesellschaften ist grundlegend und kann nicht angezweifelt werden. Von allen bestehenden gesellschaftlichen Institutionen ist das Religiöse die einzige, der die Wissenschaft nie ein reales Objekt, eine wahre Funktion beizumessen vermochte. Wir behaupten nun, Gegenstand des Religiösen sei der Mechanismus des versöhnenden Opfers; dessen Funktion sei die Weiterführung oder Erneuerung der Auswirkungen dieses Mechanismus, also das Fernhalten der Gewalt von der Gemeinschaft.“

Wo kommt die Gewalt her? Sie steckt in den mimetischen Rivalitäten, einem überall auftretenden Typus zwischenmenschlicher Konflikte, den Jesus die Ärgernis nennt. (Vgl. Girard, Ich sah den Satan ... S. 15; im griechischen Text steht scandalon, in der neuen Einheitsübersetzung der Bibel heißt es dann Verführung) Ohne mimetische (nachahmende) Verhaltensweisen verschwänden sämtliche Kulturformen, schreibt Girard (Das Ende d. G., S. 18). Diese werden erlernt, und Lernen beruht auf Nachahmung.

Aber Nachahmung kann auch kulturzerstörerisch sein; wenn es sich nämlich beim Nachgeahmten nicht um abbildende Phänomene (Repräsentationen) handelt (wie Gepflogenheiten, Worte, Redeweisen), sondern um Aneignung. Nachahmung der Aneignung (Aneignungsmimesis) beschwört Konflikte herauf: Ich greife nach etwas, weil der andere nach demselben greift. Nachahmungsmimesis und damit Gewalttätigkeit in Gruppen spielt schon beim Affen eine große Rolle, mehr aber noch beim Menschen. Hier ist die Unterdrückung der Aneignungsmimesis, d.h. der mimetischen Rivalität, ein Hauptanliegen der Kultur. Die Kontrolle der mimetischen Macht kann nicht mehr, wie bei Tieren, insbesondere Affengruppen, durch sog. dominance patterns oder Subordinationsbeziehungen geleistet werden. In Tiergruppen, z. B. bei Pavianen, dominieren ein paar Individuen die restlichen, wobei sich dann deren Nachahmung nicht mehr auf das Aneignungsverhalten der Dominierenden bezieht. Intensivierung der mimetischen Rivalität (beim Menschen) zerstört die dominance patterns.

Die Hominisation muss überhaupt von der Aneignungsmimesis verstanden werden, meint Girard (Das Ende der Gewalt, S. 90). Die Hominisationsschwelle ist da, wo die mimetische Macht Tiergesellschaften unmöglich und Opfer nötig macht. Die Opfer sollen die rotierende Gewalt einfangen und auf einen, den Sündenbock lenken, d.h. einmütig machen. Das Opfer ist Stellvertreter für die zu vermeidenden Opfer einer in der Gruppe umlaufenden Gewalt.

Die Gesellschaftsgründung geschieht also grundsätzlich durch einen solchen Gründungslynchmord. Im Maße wieder aufflammender Gewalttätigkeit (der mimetischen Krise) wird er wiederholt werden müssen. Antimimetische Verbote (z.B. bzgl. Der Aneignung von Frauen, Waffen, Nahrungsmittel oder guten Stellen) dienen der Vermeidung mimetischer Krisen. Sie gelten auch Objekten, die einen Vorwand für mimetische Rivalität abgeben könnten, also Objekte mit ansteckenden Symptomen wie Zwillinge, Jugendlich im Moment der Initiation, menstruierende Frauen, Kranke und auch Tote. Auch Verbote von Spiegeln oder überhaupt Abbildern sind als Schutz gegen die Nachahmungsmagie zu sehen.

Bilden solche Verbote die mimetische Krise im Negativ ab, tun das die Rituale im Positiv: Sie verletzen die Verbote, fordern das Mimetische. Sie inszenieren die mimetische Krise durch Verbotsübertretung wie Inzest, Beischlaf mit verbotenen Frauen, kriegerische Tänze. Dabei wird der Gesellschaftszerfall, die mimetische Auflösung der Gesellschaft, umgewandelt in einen Akt der Zusammenarbeit. Zum Abschluss der Riten erscheint der Opferakt (der Lynchmord, die Immolation oder Abschlachtung) als Bekräftigung der Einheit der Gesellschaft, einer Solidarität auf Kosten des Opfers. So kann die Gewalttätigkeit stillgelegt werden, weil dieses einhellige Opfer (der Lynchmord) keine Rache heraufbeschwört.

In der mimetischen Gewalttätigkeit ist das Gravitationszentrum religiöser Systeme zu sehen, und nicht in äußeren Bedrohungen, wie Naturgewalt. Bezeichnend ist, dass z.B. Pest und Überschwemmung Metaphern für mimetische Gewalttätigkeiten sind. Girard erklärt: „Das Religiöse ist nichts anderes als diese ungeheure Anstrengung, den Frieden aufrecht zu erhalten. Das Sakrale ist die Gewalt, doch wenn das Religiöse die Gewalt verehrt, dann nur deshalb, weil es von ihr annimmt, dass sie den Frieden bringe; das Religiöse ist gänzlich auf den Frieden ausgerichtet, aber die Wege zu diesem Frieden sind nicht von gewaltsamen Opferungen frei.“ (Das Ende der Gewalt, S. 43) „Das Sakrale ist die Gesamtheit der Postulate, zu denen der menschlich Geist durch die kollektiven Übertragungen auf die Versöhnungsopfer am Schluss der mimetischen Krisen veranlasst wird. Das Sakrale stellt keineswegs ein Sich-dem-Irrationalen-Überlassen dar, sondern die für den Menschen einzig mögliche Hypothese, so lange diese Übertragungen in ihrer Integrität fortbestehen.“ (S. 52)

Der Totenkult steht im Zentrum der Religionen, er liegt allen weiteren Formen des Religiösen zugrunde. Warum? Weil der Tote das wichtigste für die Gesellschaft darstellt, das versöhnende Opfer und die sakrale Macht. Der Tote wird mit dem Versöhnungsopfer identifiziert. Dieses stiftet Leben (Frieden in der Gemeinschaft) durch Tod. Der Leichnam ist die Rückkehr zum Frieden. Keineswegs stellt der Totenkult eine Verdrängung des naturalistischen Wissens vom Tod als absolutem Ende. In den Urkulturen und noch heute beim größten Teil der Menschheit ist der Tod als Aufhören des Lebens und die Leiche als zu entsorgender Abfall unbekannt. Der Tod erscheint vielmehr als gewaltiger Zustrom von Leben, wie er tatsächlich im versöhnenden Stellvertreter- (oder Sündenbock-)Opfer erfolgt.“

„Nicht das naturalistische heillose Wissen um den Tod ist produktiv, sondern die „Offenbarung, dass der Tod etwas Sakrales ist, also etwas, das ... eine eher wohlwollende als beängstigende, eher anbetungswürdige als in Schrecken versetzende unendliche Macht ist.“ (S.84) „Es kommt nicht in Frage, diesen Leichnam-Talisman, den Träger von Leben und Fruchtbarkeit, aufzugeben: die Kultur geht stets vom Grab aus. Das Grab ist stets nur das erste Denkmal eines Menschen, das sich um das stellvertretende Opfer erhebt, die erste, elementarste, fundamentalste Schicht von Sinngehalten. Keine Kultur ohne Grab, kein Grab ohne Kultur; zugespitzt gesagt ist das Grab das erste und einzige Kultursymbol.“ (S. 85)

Aber das Religiöse und damit die Kultur können zerfallen; wenn nämlich die Unterschiede verschwinden: der Unterschied von unreiner, ansteckender verbrecherischer Gewalt und reiner, heiliger Gewalt der Opferung und der diesem Unterschied verdankten Unterschied unter den Menschen im Sinne ihrer Rangordnung (degree, gradus), der die Zuordnung der Menschen in ihren Beziehungen ermöglicht. (Das Heilige und die Gewalt, S.79 f) Friede und Ordnung, erklärt Girard, gründen auf kulturellen Unterschieden, auf Ungleichheit unter den Menschen. Die Tendenz der Moderne sei, die Ungleichheit aufzuheben.

Entscheidend ist die Differenz von heiliger und unreiner Gewalt, durch die das Opfer Frieden und Ordnung stiften kann. Wird diese Differenz aufgehoben, d.h. das Opfern entsakralisiert zur profanen Verfolgung, so reißt das alle Unterschiede mit sich. (S. 77)

Wir leben heute in einer Kultur der Entsakralisierung, wo jene Übertragungen nicht mehr funktionieren, das heilige Opfer nicht mehr wirksam ist. Die Sakralisierung des Opfers ist nicht mehr möglich – weil der Opfermechanismus durchschaut ist, meint Girard. „In dieser modernen Welt vertieft sich die Kenntnis der menschlichen Gewalttätigkeit mehr und mehr. In den urtümlichen Welten sind unsere (Girards) Aussagen undenkbar; selbst wenn Menschen gäbe, die sie machen könnten, wären sie gänzlich unverständlich. Die Verfolgungsphänomene (wie die mittelalterlichen Judenverfolgungen) kämen nicht als solche auf uns, sie kämen uns nur unter der missverständlichen Form der Mythologie zu Gesicht und wären durch das Filter der Sakralisierung der Opfer gegangen.“ (Das Ende der Gewalt, S. 130)

Der Fortschritt in der Kenntnis des Opfermechanismus hindert die Sakralisierung. Der Unterschied zwischen berechtigter und unberechtigter Gewalttätigkeit schwächt sich ab, seine Illusionskraft schwindet: „und es gibt fortan nur noch feindliche Brüder.“ (133) „Entweder müssen die Menschen sich ohne Vermittlung durch Opfer miteinander versöhnen oder sich damit abfinden, dass die Menschheit demnächst ausgelöscht wird“, meint Girard (S. 140). „Der endgültige, vorbehaltlose Verzicht auf Gewalttätigkeit zwingt sich uns auf als conditio sine qua non des Überlebens der Menschheit und eines jeden einzelnen von uns.“ (S. 140)

„Wenn es uns heute gelingt, die Kulturmechanismen zu analysieren und zu demontieren, dann dank des indirekten, unbemerkten, aber ungeheuer zwingenden Einflusses, den die jüdisch-christlichen Schriften auf uns ausüben.“ (S. 141) Jesus bringt das Wissen um die Gewalt und deren Werke, deckt den gewalttätigen Charakter der kirchlichen Hierarchien, der rituellen Tempelordnung und sogar der Familie auf (S. 216). Er ist der erste und einzige Mensch, der der Gewalt nichts verdankt. „Die Menschen sind es, die Jesus getötet haben, da sie außerstande sind, sich miteinander zu versöhnen, ohne zu töten.“ Jesus starb nicht als Opfer, sondern gegen alle Opfer.

Jesus ist dann – fast – der Beweis für eine gewaltlose Gottheit: „Falls es eine gewaltlose Gottheit gibt, kann diese den Menschen nur dadurch auf ihre Existenz aufmerksam machen, dass sie sich durch Gewalt vertreiben lässt und den Menschen beweist, dass sie nicht im Reich der Gewalt weilen kann.“ (S. 227)

Wie die Gewalt unter den Menschen zuende kommen kann, sagen uns die Evangelien: „Um der Gewalttätigkeit zu entgehen, muss man seine Bruder vollkommen lieben und auf die gewalttätige Mimesis der Doubles-Beziehung verzichten.“ (S. 222)

Aber warum tun die Menschen das nicht? Oder doch nicht alle? Weil einem am unbedingten Fortbestand der Menschheit und seiner selbst nichts liegt? Weil man nicht an ein Leben nach dem Tode glaubt? - Girard Aufforderung zur Nächstenliebe legt letzteres nahe: „Man soll nicht zögern, sein Leben hinzugeben, um nicht zu töten und um damit aus dem Teufelskreis des Mordes und des Todes herauszukommen. Es ist also innerhalb des Zusammenstoßen der Doubles (der feindlichen Brüder) buchstäblich wahr, dass der, der das Leben retten will, es verlieren wird, müsste er doch sonst seinen Bruder töten, und dies hieße, in der unheilvollen Verkennung des anderen und seiner selbst sterben. Wer es hinnimmt, sein Leben zu verlieren, bewahrt es für das ewige Leben, denn er ist der einzige, der nicht tötet, der einzige, der die Fülle der Liebe kennt.“ (S. 222)

Girard meint, „die Tatsache, dass die Evangelien ein echtes Wissen um die Gewalt und ihre Werke enthalten (und Girard hat dieses Wissen angeblich aus den Evangelien), kann nicht einen rein menschlichen Ursprung haben.

Girard ist übrigens der erste nach fast 2000 Jahren, der dieses Wissen dort entdeckte. Erst jetzt, durch ihn, sind die Evangelien überhaupt verständlich und können, wie Girard hofft, ihre Botschaft vom Ende der Gewalt wirksam werden lassen.

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