Kapitel 9
Moses und der Monotheismus (Freud)

Freud geht es in seinem letzten Buch von 1938 Der Mann Moses und die monotheistische Religion um den Ursprung des Judentums und um den damit verbundenen (jüdischen) Monotheismus. Aber auch um den Ursprung des Judenhasses. (Vgl. Jan Assmann: Sigmund Freuds Konstruktion des Judentums. In: Psyche, Febr. 2002, S. 157)

Freud sieht im jüdischen Monotheismus gegenüber den Bildreligionen einen „Fortschritt in der Geistigkeit“ (Freud, Bd. IX, S. 557). Im Bilderverbot (vgl. Ex 20:4: Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von Himmelskörpern sowie von irdischen und unterirdischen Gewalten) stecke der entscheidende rationalistische Impuls. Der Monotheismus fundiere mit seinem Bilderverbot, der Verwerfung des magisch wirkenden Zeremoniells und der Betonung der ethischen Forderung des Gesetzes eine „existentielle Weltfremdheit“ und damit „allmähliche Entstrickung des Menschen aus den Zwängen der Idolatrie (der Anbetung von Götzenbildern), die seinen Geist gefangen halten. Im Antisemitismus kann Freud dann eine Reaktionsbildung gegen den Geist sehen, einen Antiintellektualismus. „Antisemitismus ist Antimonotheisums und damit Antiintellektualismus.“ (Vgl. Assmann, Freuds Konstruktion des Judentums, S. 159)

Aber Freud entwickelt noch ein anderes Motiv für den Antisemitismus, das die historische Wahrheit der Religion, also den Urvatermord, betrifft. Demnach haben die Juden einen gewissen Fortschritt in der Religion, der auf Jesus bzw. Paulus zurückgeht, nicht mitgemacht: den Fortschritt von der Vaterreligion zur Sohnesreligion, in welcher sich der (Christen-)Mensch von der Schuld des Urvatermordes (der Erbsünde) befreit. Die Juden müssen nun von den Christen den Vorwurf hören: „Sie wollen es nicht wahrhaben, dass sie Gott gemordet haben, während wir es zugeben und von dieser Schuld gereinigt sind.“ (Freud, Studienausgabe Bd. IX, S. 581)

Der Gottesmord, alias Vatermord, ist die Hauptsache in Freuds Der Mann Moses und die monotheistische Religion, denn er stellt die historische Wahrheit der Religion dar und damit eine gewisse Rechtfertigung der Religion, die eine gegenwärtige zwanghafte Wiederholung dieses historischen Ereignisses ist. Hatte Freud die Religion in Die Zukunft einer Illusion noch „hauptsächlich negativ gewürdigt“, so erweist er ihr, wie er selbst schreibt, in der Mosesschrift eine „bessere Gerechtigkeit“ (IX, S. 138).

Freud behauptet: Moses ist „der Schöpfer des jüdischen Volkes“ (IX, S. 553) und begründet das. Moses wurde dieser Judenschöpfer, indem er, der, wie Freud annimmt, selbst ein Ägypter war, einer in Ägypten lebenden jüdische Volksgruppe den bereits wieder verbotenen Monotheismus des Echnaton (Pharao um 1350 v. Chr.), einen Sonnenscheibenkult, als deren nun eigene Religion auferlegte und auch die ägyptische Sitte der Beschneidung bei ihnen einführte. Dieses Volk führte er dann (kurz nach Echnatons Tod, die meisten Historiker sagen aber hundert Jahre später, also um 1250 v.Chr.) aus Ägypten heraus, so dass es schließlich, mit anderen Volksgruppen verschmolzen, in Palästina sich Land nahm und siedelte.

Freud nimmt (mit Ernst Sellin, der dies aus Andeutungen bei den biblischen Propheten erraten hat) an, dass die aus Ägypten entkommenen Juden Moses töteten, „weil sie die hohen Ansprüche seiner abstrakten (vergeistigten) Religion auf Dauer nicht ertragen konnten. Die Juden, die Moses erschlugen, waren also in gewisser Weise die ersten Antisemiten. Das Judenvolk fiel wieder in die Idolatrie zurück und nahm ca. zwei Generationen nach dem Untergang von Moses und seiner monotheistischen Religion den arabisch-midianitischen Kult Jahwes, eines Vulkangottes, als neue Religion an – und zwar vermittelt durch einen zweiten Moses, den Schwiegersohn des midianischen Priesters Jethro. Dieser Kult nahm aber nach und nach durch eine erhalten gebliebene monotheistische Tradition unter den Juden doch wieder die Züge der monotheistischen Echnaton/Moses-Religion an. Schließlich siegte der mosaische Gott über Jahve.

Was die Wiederkehr der (durch Moses-Mord, traumatisch) untergegangenen Mosesreligion nach „langen Jahrhunderten“ der Versunkenheit ermöglichte, war „eine Art von Erinnerung“, eine „vielleicht verdunkelte und entstellte Tradition“ (Freud IX, S. 518).

Tatsächlich ist der biblische Monotheismus eine Sache der prophetischen Bewegung aus dem 8.Jh., die erst in der nachexilischen Zeit ab 538 v. Chr. zum radikalen Monotheismus durchbrach. Nach Gerald Messadié (Die Geschichte Gottes, S. 178) bestand der Polytheismus bei den Juden noch 600 Jahre nach Echnaton. Denn bei den Propheten aus der Zeit nach dem Exil (nach dem 6. Jh. ) wimmelt es an Verwünschungen über die Vielfalt der Götzenkulte unter den Juden. (Vgl. Messadié, Die Geschichte Gottes, S.208). Salomon z.B. verehrte Astarte. Sein Nachfolger Jerobeam verehrte den Donnergott als Stier oder goldene Kälber – ganz gegen den Dekalog. Das Gesetz (der Pentateuch oder die Bücher Mose) stammen aus einer Zeit nach den Propheten (ausgehendes 6. Jh.). Erst zwischen 560 und 538 (im Buch der Könige) wurde die Vorstellung eines einzigen Gottes und dessen Name formal festgelegt.

Diese 700 bis 800 Jahre nach der Stiftung der Religion durch den ägyptischen Moses und nach beider Untergang nennt Freud die „Latenz in der jüdischen Religionsgeschichte“ (IX, S. 518), und er meint mit diesem Wort tatsächlich die seiner Meinung nach erblich-organisch vorgezeichnete Latenzphase für die zweigipfelige Sexalität, d.h. zwischen frühkindlicher und pubertärer Sexualität, d.h. zwischen ödipalem Trauma und seiner Wiederholung. Denn es gäbe sie auch für die Menschheitsentwicklung insgesamt! Was vergessen wird und nach einer Latenzzeit oganisch-genetisch determiniert, wiederkehrt (wie angeblich die Sexualität überhaupt, was die Biologie nicht bestätigen kann) sind individualpsychologisch Erfahrungen aus der frühen Kindheit, die sich auf sexuelle und aggressive Eindrücke beziehen. Für die Menschheit insgesamt sind es die sexuellen und aggressiven Eindrücke aus der jahrtausendelangen Urzeit des Vatermordens durch Brüderhorden.

Für die im Totemismus und weiter im Monotheismus nach langer Latenz wiederkehrende Vaterreligion bzw. Vatertötung (in den Urhorden der ersten Menschen) nimmt Freud also eine genetische Tradierung an: „Wir entschließen uns ... zu der Annahme, dass die psychischen Niederschläge jener Urzeiten Erbgut geworden waren“ (IX, 577).

Die Latenzzeit in der jüdischen Religionsgeschichte ist also die Zeit zwischen Urvater- d.h. Moses-Mord und neuem Moses (2. Religionsstiftung), d.h. der Wiederkehr von Vater Moses. Das ist dann schon die zweite Wiederkehr des Verdrängten (des getöteten Vaters). Schon der erste Monotheismus des ersten Moses war Wiederkehr des Vaters, war nämlich bezogen auf ein Ereignis aus Urzeiten des Menschheitslebens.

Freud meint also, das traumatische Ereignis sei der Mord der Brüdergruppe am Vater, der das Monopol auf die Frauen hatte. Und die Religion sei nun die rezente reale Wiederholung des Ereignisses. Da das Trauma als Neurose wiederkehrt, heißt das: Religion ist eine Neurose, eine „Menschheitsneurose“ (S. 504).

Dazu Freuds Beispiel (IX, S. 527) aus der Individualpsychologie (was dann auf die Massenpsychologie übertragen wird): Der Knabe beobachtet den Beischlaf des Vaters mit der Mutter. Seine aggressive Männlichkeit wird erweckt, d.h. der Knabe unternimmt sexuelle Angriffe (mit dem Penis in der Hand) auf die Mutter in Identifizierung mit dem Vater. Die Mutter verbietet ihm, sein sündiges Glied zu berühren, der Vater würde es sonst abschneiden. Der Knabe unterlässt seine sexuelle Tätigkeit und identifiziert sich mit der misshandelten Mutter, sucht bei ihr Schutz gegen den mit Kastration drohenden Vater.

„In dieser Modifikation des Ödipuskomplexes verbrachte er (der Knabe) die Latenzzeit.“ (IX, S. 527) Nach diese Zeit, mit eintretender Pubertät, ist er impotent und psychischer Onanist. Er Hasst den Vater. Nach dessen Tod und schließlich doch verheiratet wird er getreue Kopie des Vaters: Wiederaufleben der Vateridentifizierung. „In diesem Stück erkennen wir die Wiederkehr des Verdrängten.“ (IX, S. 528)

Nun die Übertragung: Im Leben der Menschenart ist Ähnliches vorgefallen, postuliert Freud (S. 529). Urzeitliche sexuell-aggressive Vorgänge haben bleibende Folgen hinterlassen und kommen nach langer Latenz zur Wirkung – in den Phänomenen des Totemismus und der Religion (d.h. in kollektiven Neurosen). Urzeit, das ist das jahrtausendelange Leben der Urmenschen („alle unsere Ahnen“) in von starken Männchen (Herr und Vater, Besitzer der Frauen, der eifersüchtig seine sexualreifen Söhne verfolgt) angeführten Horden. Die jüngsten Söhne blieben durch die Mütter geschützt und konnten nach Ableben des Vaters diesen ersetzen. Aber die von väterlicher Eifersucht verfolgten, auf Frauen scharfen ältere Söhne bildeten eigene auf Frauenraub angewiesene Gruppen. Schließlich überwältigten diese Brüderhorden den Vater, verzehrten in roh, was Identifizierung durch Einverleibung bedeutet.

Jetzt kommt die Latenzzeit, in der eine Art Gesellschaftsvertrag herrscht. Es gibt Anfänge von Moral und Recht, Inzesttabu bzw. Exogamiegebot, sogar Matriarchat. Aber das Andenken des Vaters lebt fort. Im Totemtier wird Vaterersatz geschaffen. In der Totemmahlzeit wird der Sieg der Söhne über den Vater gefeiert. Später treten an die Stelle der Tiere menschliche Götter. Erst weibliche (Mutterrecht, siehe Bachofen) später männliche, schließlich kommt der eine Vatergott wieder. Der Monotheismus ist entstanden! – Soweit Freuds historische Übersicht über die Entstehung der Religion aus dem Totemismus und ihre Weiterbildung zum patriarchalen Monotheismus.

Freud gibt zu, dass die historischen Belege etwas lückenhaft seien und z.T. ungesichert, aber seine Theorie sei dennoch nicht phantastisch. Er verweist auf Sagen und Märchen sowie auf die christliche Kannibalenmahlzeit (hl. Kommunion) als Urzeit Erinnerungen bzw. Überbleibsel. (Vgl. S. 532)

Was nun den jüdischen Monotheismus betrifft, so kann hier „die pharaonische Weltherrschaft als Anlass für die monotheistische Idee gelten“, schreibt Freud. Peter Priskil (in seinem Beitrag Echnaton – Träumer, Fanatiker oder Revolutionär, S.31) betont, dass der Monotheismus des Echnaton ein pointierter Staats- bzw. Herrscherkult gewesen sei, der den Pharao als Sohn des Sonnengottes Aton ins Zentrum rückt. „Aton mag die Welt und alles Leben auf ihr erschaffen haben, aber nur zu Nutz- und Nießbrauch seines Sohnes, des realen Herrschers, der sein Regiment über ein reales Reich führt.“

In Echnatons Sonnenhymnus heißt es:

Du bist in meinem Herzen,
Kein anderer ist, der dich kennt,
Außer Deinem Sohn Echnaton (...)
Seit du die Erde gründetest,
Hast du sie aufgerichtet für deine Sohn,
Der aus die selbst hervorging,
Den König, der von der Wahrheit lebt,
Den Herrn der beiden Länder
(Ober – und Unterägypten) ...

Diese monotheistische Idee, schreibt Freud, ergreift, „von ihrem Boden losgelöst und auf ein anderes Volk übertragen, von diesem Volk nach einer langen Zeit der Latenz Besitz,.... indem sie ihm den Stolz der Auserwähltheit schenkt“ mit der Hoffnung auf Belohnung und Weltherrschaft. Überwältigt vom Bewusstsein der Auserwähltheit gelangte das jüdische Volk „zur Hochschätzung des Intellektuellen und zur Betonung des Ethischen“ (S. 533 f), so dass wir, wie eingangs gesagt, den jüdischen Monotheimus mit Intellektualismus assoziieren und den Antisemitismus mit Antiintellektualismus identifizieren können.

Auch das andere antisemitische Motiv, den Vorwurf des uneingestandenen Gottesmordes, können wir nun verstehen. Er betrifft das Schuldbewusstsein aus der prähistorischen Tragödie des Vatermordes. Mit der Wiedereinsetzung des Urvaters war es nämlich noch nicht getan, erklärt Freud ganz zum Schluss seiner Abhandlung. „Paulus, ein römischer Jude aus Tarsus, griff dieses Schuldbewusstsein auf und führte es richtig auf seine urgeschichtliche Quelle zurück. Er nannte diese die ´Erbsünde´, es war ein Verbrechen gegen Gott, das nur durch den Tod gesühnt werden konnte.“ (S. 534) Und zwar durch den Tod des Hauptschuldigen, des (reinkarnierten) Führers der Brüderhorde, welche Rolle Christus spielte, der mit seinem Tod die Schuld aller auf sich nahm, so dass nun nicht mehr die Christen, wohl aber die unerlösten Juden als Gottesmörder gelten.

Freilich, von dieser freudschen Konstruktion, der Identifizierung des Essens vom Baum der Erkenntnis mit dem Urvater- bzw. Gottes mord und der Identifizierung des unschuldigen, erbsündelosen Erlösers Christus mit dem Hauptschuldigen des Gottesmordes, hat Paulus nichts gewusst. Aber, meint Freud, „die dunklen Spuren der Vergangenheit lauerten in seiner Seele, bereit zum Durchbruch in bewusstere Regionen.“ Solche Regionen will Freud uns eröffnet haben. Wir wissen jetzt, meint er, dass und wie die Vaterreligionen des Judentums und des Islam, sowie die Sohnesreligion des Christentums traumatische Wiederkehren sind der ödipalen Gewalterlebnisse aus den Urzeiten der Menschheit.

Zurück zur Auswahl