Kapitel 8
Religion und Infantilität (Freud, Sloterdijk)

Zeugt Religion von Unreife und Kindlichkeit, Atheismus aber von Reife und Erwachsensein? - Henry Gelhausen legt uns das in seinem Beitrag ´Atheismus – ein Stadium der Reife´ (S. 167 in Dahl: Die Lehre des Unheils) nahe. Er beruft sich auf Desmond Morris, der in seinem Buch Der Mensch, mit dem wir leben den Gottesglauben auf Neotenie zurückführt. Neotenie meint die Beibehaltung jugendlicher Merkmale im Erwachsenenalter. Morphologisch ist das z.B. die Zurückhaltung der Schnauzenbildung (Beibehaltung der rinozephalen Knickung, vgl. Gehlen, Der Mensch, S. 110) oder auch die Beibehaltung der fötalen konkaven Rückgradabbiegung (ebenda S. 111). Im Verhalten ist es z.B. Neugier, Verspieltheit, Schutzbedürfnis. Das könnte bedeuten, dass der Mensch, genau wie das neotenische Wesen Hund (ein ´verhaustierter´ Wolf), das in seinem Herrn einen Gott sieht, auch als Erwachsener immer noch einen ´Superelternteil´, einen Gott braucht.

Ganz im Sinne dieses Neotenie-Theorems hält Freud die Religion für eine Kindheitsneurose der Menschheit. Und sie ist heilbar, d.h.: Die Menschheit kann erwachsen werden. – Sehen wir uns das genauer an!

Freud erklärt in Die Zukunft einer Illusion: Religiöse Vorstellungen sind Illusionen. Religion ist insgesamt eine Illusion. Aber sie kommt nicht von ungefähr. Religiöse Vorstellungen gehören zum psychischen Inventar der Menschen. Sie sind seelischer Besitz einer Kultur neben dem physischem Besitz, d.h. den Gütern und den Mitteln zu ihrer Gewinnung und Verteilung. Sie gehören zu den Verteidigungsmitteln der Kultur gegen den Einzelnen, der Triebwünsche zu unterdrücken und Entbehrungen auf sich zu nehmen hat und deshalb ein Feind der Kultur ist. Die Gewinnung von triebwuschbefriedigenden Lebensgütern erfordert eben Arbeit und Opfer, d.h. Triebverzicht (bzgl. Inzest, Kannibalismus und Mordlust). - Die anderen Verteidigungsmittel sind Überichbildung sowie Kunst, Werte und Ideale.

Besonders religiöse Vorstellungen sollen die menschliche Hilflosigkeit gegenüber der Natur und hier insbesondere gegenüber dem Tod erträglich machen. Sie sollen auch vor Gefahren aus der menschliche Gesellschaft schützen. Wie geschieht das?

Zunächst werden die Naturkräfte vermenschlicht. Man gibt ihnen Vatercharakter, macht sie zu Göttern, und „folgt dabei nicht nur einem infantilen, sondern auch, wie ich (Freud) versucht habe zu zeigen (in Totem und Tabu 1912/13, IX, 43o ff, was in Der Mann Moses dann wieder aufgenommen wird), einem phylogenetischen Vorbild.“ Als man merkte, „dass die Naturerscheinung sich nach inneren Notwendigkeiten von selbst abwickelten“, zogen sich die Götter aus der Natur zurück. Das Moralische wird ihre eigentliche Domäne. “Den Kulturvorschriften wird göttlicher Ursprung zugesprochen, sie werden über die menschliche Gesellschaft hinausgehoben, auf Natur und Weltgeschehen ausgedehnt. So wird ein Schatz von Vorstellungen geschaffen, geboren aus dem Bedürfnis, die menschliche Hilflosigkeit erträglich zu machen, erbaut aus dem Material der Erinnerungen an die Hilflosigkeit der eigenen und der Kindheit des Menschengeschlechts.“ (S. 152) Dieser Schatz besteht aus „Lehrsätzen, Aussagen über Tatsachen und Verhältnissen der äußeren (oder inneren) Realität, die etwas mitteilen, was man selbst nicht gefunden hat, und die beanspruchen dass man ihnen Glauben schenkt. Da sie Auskunft geben über das für uns Wichtigste und Interessanteste im Leben, werden sie besonders hochgeschätzt.“ (S. 159)

Verwunderlich ist dabei, dass diese wichtigsten Mitteilungen unseres Kulturbesitzes die „allerschwächste Beglaubigung“ haben. Die Frage nach der Beglaubigung wird entweder verboten, oder man beruft sich auf die Tradition, in der Beweise überliefert seien. „Wenn es sich um Fragen der Religion handelt, machen sich die Menschen aller möglichen Unaufrichtigkeiten und intellektuellen Unarten schuldig.“ (S. 166) Man entgeht dem Problem auch, indem man, wie Tertullian etwas glaubt, gerade weil es vernunftwidrig ist (Credo quia absurdum), wie z.B. die Auferstehung von den Toten. Oder man beruft sich aufs eigene innere Erlebnis.

Diese religiöse Erlebnisfähigkeit haben nur Wenige, meint Freud (er selbst hatte sie nicht). Man könne eine für alle gültige Verpflichtung (wie sie die religiösen Lehrsätze bilden) nicht auf ein nur bei wenigen existierendes Motiv aufbauen. (S. 162) Aber Vernunft haben alle Menschen. „Man kann von allen Menschen verlangen, dass sie die Gabe der Vernunft anwenden, die sie besitzen“. (S. 162) Und täten sie das, würden sie einsehen, dass die Kulturvorschriften nicht unbedingt, bei vernünftigen Leuten nämlich, einer religiösen Begründung bedürfen, dass sie rational begründet werden können – als sozial nötig.

Z.B. das Mordverbot. Aber, weiß nicht gerade der Psychoanalytiker, wie wenig vernünftige Motive noch beim heutigen Menschen ausrichten gegen leidenschaftliche Antriebe? „Um wie viel ohnmächtiger müssen sie bei jenem Menschentier der Urzeit gewesen sei!“

Hier stoßen wir auf die historische Wahrheit der Religion. „Vielleicht würden sich dessen Nachkommen noch heute hemmungslos, einer den anderen, erschlagen, wenn unter jenen Mordtaten nicht eine gesehen wäre, der Totschlag des primitiven Vaters, die ein unwiderstehliche, folgenschwere Gefühlsreaktion herausbeschworen hätte. Von dieser stammt das Gebot: du sollst nicht töten, das im Totemismus auf den Vaterersatz beschränkt war, später auf andere ausgedehnt wurde, noch heute nicht ausnahmslos durchgeführt ist.“ (S. 176)

Die historische Wahrheit der Religion mit ihren ´göttlichen´ Moralvorschriften, insbesondere den Mordverbot, ist der Urvatermord mit dessen Gefühlreaktion, die sich in dem Gebot äußert: Du sollst den Vater nicht töten. Sofern der Urvater Urbild Gottes gewesen ist, war Gott tatsächlich an der Entstehung jenes Verbotes beteiligt. „Die religiöse Lehre teilt uns also die historische Wahrheit mit, freilich in einer gewissen Verkleidung; unsere rationelle Darstellung verleugnet sie“, sie, die historische Wahrheit. Aber das ist nun mit der psychoanalytischen Aufklärung wieder gut gemacht. Die religiöse Verkleidung und damit überhaupt die Religion brauchen wir nicht mehr (zur Moralbegründung). Die Abwendung von der Religion vollzieht sich heute mit der schicksalsmäßigen Unerbittlichkeit eines Wachstumsvorganges – so wie die Kinderneurosen während des Wachstums spontan überwunden werden. (Diese Neurosen entstehen, wenn Triebansprüche durch Verdrängungsakte anstatt durch rationelle Geistesarbeit gebändigt werden.) Die Religion ist eine Kinderneurose der Menschheit, eine „allgemein menschliche Zwangsneurose“, die wie die Zwangsneurosen der Kinder aus der Vaterbeziehung, dem „Ödipuskomplex“, stammen. (S. 177) So wie man dem Kind gegenüber die symbolische Verschleierung der Wahrheit unterlassen sollte und dem Kind die Kenntnis der realen Verhältnisse in Anpassung an seine intellektuelle Stufe nicht versagen sollte, so kann auch bei der religiösen Aufklärung verfahren werden. Die affektive Kulturgrundlage ist durch eine rationelle zu ersetzen. Eine „irreligiöse Erziehung“ muss versucht werden. (Vgl. S. 181)

Aber: Ersetzt man dann nicht eine Illusion durch eine andere? Nein, meint Freud: „Meine Illusionen – abgesehen davon, dass keine Strafe darauf steht, sie nicht zu teilen – sind nicht unkorrigierbar wie die religiösen, haben nicht den wahnhaften Charakter.“ (S. 186) Gegen den Einwand, auch die wissenschaftliche Bemühung wäre an die Bedingungen unserer eigenen Organisation (des psychischen Apparates) gebunden und würden deshalb nichts anderes als subjektive Ergebnisse liefen, wendet Freud im Sinne eine heute sog. Evolutionären Erkenntnistheorie ein, „dass unsere Organisation, d.h. unser seelischer Apparat, eben im Bemühen um die Erkundung der Außenwelt entwickelt worden ist, also ein Stück Zweckmäßigkeit in seiner Struktur realisiert haben muss.“ (S. 188 f) Wenn wir uns dann darauf beschränken, die Welt so zu zeigen, wie sie infolge der Eigenart unserer Organisation ist, dann werden die Resultate unserer Wissenschaft nicht nur durch die Eigenart unserer Organisation bestimmt sein, sondern auch „durch das, was auf diese Organisation gewirkt hat.“ „Nein, unsere Wissenschaft ist keine Illusion. Eine Illusion aber wäre es zu glauben, dass wir anderswoher bekommen könnten, was sie uns nicht geben kann.“ (S. 189)

Die Auflösung der Kindheitsneurose der Menschheit, der religiösen Illusion, kann also trotz der biologischen Disposition für Religion bzw. Gottesglauben möglich werden – durch die ebenso biologisch disponierte Vernunft im Sinne der Erkundung der Außenwelt. Diese zur Selbsterhaltung und Fortpflanzung nützliche Fähigkeit ist, meint Freud, ebenso eine evolutionäre Errungenschaft wie die religiösen Vorstellungen. Aber der Mensch ist heute in der Lage, die religiösen Vorstellung zu ersetzen bzw. obsolet zu machen.

Religion und Wissenschaft (oder Vernunft) verhalten sich wie Kindheit und Erwachsensein. Das biologische Problem liegt auf der Hand: Einerseits ist der Mensch heute wie vor Tausenden von Jahren morphologisch wie ethologisch (in Körperbau und Verhalten) durch die Beibehaltung jugendlicher Merkmale im Erwachsenenalter bestimmt, durch jene eingangs erwähnte Neotenie. Anderseits soll er heute durch die im Laufe der letzten zwei bis drei Jahrtausenden durch evolutionierte Vernünftigkeit erwachsen geworden sein, und zwar ohne morphologische Veränderung. Vielleicht ist Vernunft aber erst durch morphologische Neotenie möglich geworden.

Auf die Bedeutung der Neotenie für die Hominisation weist Sloterdijk (in Versuche nach Heidegger) hin. Vier Mechanismen sind für die Hominisation vonnöten, schreibt Sloterdijk. 1. Insulation, Schaffung von Schutzräumen in der Natur gegen die Natur, eine Art „Paradies“ (Gehlen S.128, denn ein unspezialisiertes Wesen, bevor die Werkzeugintelligenz wirksam wurde, muss unangepasst und schutzlos gewesen sein). 2. Körperausschaltung (wie Paul Alsberg sagt) bzw. Handeinschaltung, d.h. weitere Naturdistanzierung durch Werkzeuggebrauch (Werfen, Schlagen, Schneiden). Selektion „führt dann nicht so sehr zur Anpassung an eine druckausübende Umwelt, sondern belohnt die Eigenschaften, die dem wachsenden Sapiens die erhöhte Distanzierung an sie erleichtern“, meint Sloterdijk. 3. Neotenie (oder fetale Redardation, wie Louis Bolk sagt. Der Mensch ist demnach ein zur Geschlechtreife gelangter Primatenfetus. 4. Übertragung, womit eine symbolische Immunologie gemeint ist, zu der auch die Religionen gehören.

Alle vier Mechanismen sind in einem eigens hiefür steigernden Organ, dem Gehirn, synthetisiert, so dass die Zerebralisation oder Neokortikalisierung auch als 5. Mechanismus genommen werden kann, erklärt Sloterdijk (Versuche nach Heidegger, S. 175f).

Die Rückführung des Gottesglaubens und erst recht der Religion überhaupt auf Neotenie greift zu kurz. Ebenso die Vorstellung, sie sei durch Rationalität zu ersetzen. Denn: Neotenie oder der Ausbau der Infantilität geht mit der Zerebralisation einher und bedeutet nicht geistige Infantilisierung. Religion mit ihren reparativen Operationen folgt einem eigenen Meschanismus: dem der Übertragung. Dazu Sloterdijk:

„Tatsächlich ist das herausragende Merkmal der werdenden Sapiensgruppe der beispiellose Ausbau der Infantilität: Er wird übersteigert durch die Einbringung festgehaltener fötaler Züge ins erwachsene Erscheinungsbild. Für diesen Trend ist das Luxurieren der Zerebralität mitverantwortlich, die zum Teil durch hohe evolutionäre Prämien auf Intelligenzzuwächse (daneben wohl auch durch ständigen Zugang zu einer Nahrung aus tierischen Proteinen) erklärt werden kann.“ (Versuche nach Heidegger S. 190) Insgesamt ist die Menschwerdung Effekt einer Hyper-Insulation. Aber auch hoch-insulierte Gruppen stehen noch unter Außendruck. Bricht die Gruppenhülle (durch Naturkatastrophen, Gewalt in Tier- und Menschengestalt, Kriege), ist es wichtig, „nach Zusammenbrüchen auf einen Vorrat an Erinnerungen und Routinen zurückgreifen zu können, die eine wie auch immer veränderte Wiederholung früherer Ordnungs- und Integritätszustände erlauben.“

„Der Rückgriff auf Zustandserinnerungen aus der Zeit vor Katastrophen ist der Ansatzpunkt für die Entstehung von reparativen Religionen. Deren Kern bilden rituelle und psychische Handlungen, in denen integre Raumerfahrungen auf Zustände nach Unheil übertragen werden. Darum kennen viele religiöse Systeme das Konzept und die symbolische Praxis der Wiedergeburt: mit ihr lässt sich das Wiederanknüpfen des verletzten Lebens an der Integrität des Ungeborenen am überzeugendsten inszenieren.“

„Die Nachfrage nach regenerativen Operationen setzt ein, wenn Fremdmenschen zum höchsten Umweltrisiko für Menschen werden, mithin in der imperialen, politischen und hochkulturellen Periode der Geschichte, in der die Herrschaft des Menschen über den Menschen für zahllose Einzelne und Völker zur chronischen Tortur geriet. In dieser Sicht stellt die staatsgeschichtliche Zeit den dauernden Ernstfall dar; die Erlösungsreligionen sind die Notstandsgesetze für die immerwährenden Vergewaltigungen des Menschen durch den Menschen.“ (S. 208)

„Wo auch immer Neu- und Notsituationen danach verlangen, verstanden und gestaltet zu werden, greifen Menschen auf Routinen aus der älteren, relative integren Situation zurück und legen sie in den fremden Raum hinein.“ (S. 209)

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