Kapitel 6
Die Reise des Parmenides (Schmitz, Kingsley)

Kant sagt in seiner Metaphysik-Vorlesung aus dem Jahren 1783/3, wir wären erst „nach dem Tode ... in einer ganz anderen Welt ... einem intelligiblen Reiche ..., wo wir nämlich die Dinge erkennen, wie sie an sich selbst sind,“ (Akademieausgabe Bd. XXIX, S. 919 f) d.h. ohne das vorstellende Ich, - ohne mich.

Glauben wir den religiösen Erfahrungen, unserer eigenen wie der von anderen, die davon berichteten, so brauchen wir nicht unbedingt auf den Tod zu warten. Wir können das Totsein und damit die unverstellte Schau der Dinge („jedes in seiner Soheit“, wie Nishitani über die Große Erleuchtung erklärte, s.o. Kap.4) schon zu Lebzeiten erfahren. Dem Physiker Ernst Mach (1838-1916) ist es so ergangen.

Im Alter von ca. 18 Jahren empfand Mach, so berichtet er in seinem Buch Die Analyse der Empfindungen, „plötzlich die müßige Rolle, welche das ´Ding an sich´ spielt.“ Er schreibt: „An einem heiteren Sommertage im Freien erschien mir mit einmal die Welt samt meinem Ich als eine zusammenhängende Masse von Empfindungen, nur im Ich stärker zusammenhängend. Obgleich die eigentliche Reflexion sich erst später hinzugesellte, so ist doch dieser Moment für meine ganze Anschauung bestimmend geworden.“ (Die Analyse der Empfindungen, 3. Auflage Jena 1902, S. 23) Mit Hermann Schmitz (in seinem Buch Der Ursprung des Gegenstandes von 1988) nennt man diese Erfahrung des zusammenhängenden Einen die Mach-Erfahrung.

Die Mach-Erfahrung findet Schmitz schon bei Parmenides beschrieben. In seinem Lehrgedicht ist das Seiende im Ganzen “ein zusammenhängendes Eines“, dem das Bemerken (noein) eingeschmolzen bleibt, weil „nichts außerhalb des Seienden ist oder sein wird.“ (Der Ursprung des Gegenstandes, S. 2) Alles, was man bemerkt, spürt man in sich. Anders gesagt: Dasselbe ist es, etwas zu bemerken (noein) und dieses zu sein (einei). Das ist der Sinn des Fragment 3 des Parmenides, meist übersetzt als: „Denn dasselbe sind Denken und Sein“.

Tibetanische Lamas führen die große Versenkung im religiösen Interesse methodisch herbei, schreibt Schmitz. „Um bei der Betrachtung der Sonne und des Himmels, die zu ihren täglichen Übungen gehört, nichts als den Himmel zu sehen ..., legen sie sich auf den Rücken. Der Brauch soll zur Verzückung führen und ´ein Gefühl unbeschreiblicher Verbundenheit mit dem Weltall` herbeiführen.“ (S. 2)

Davon berichtet auch der irische Romancier Forrest Reid: „Es war, als hätte ich nie erkannt, wie lieblich die Welt war. Ich legte mich auf den Rücken in das warme, trockene Moos und hörte dem Gesang der Lerche zu ... Und dann kam eine merkwürdige Erfahrung über mich. Es war, als ob alles, was vorher außerhalb und um mich zu sein schien, plötzlich in mir sei. Die ganze Welt schien in mir zu sein. In mir wiegten die Bäume ihre grünen Kronen, in mir sang die Lerche, in mir schien die heiße Sonne und in mir war der kühle Schatten.... Ich hätte vor Freude schluchzen können.“ (S. 2 f)

Zur Macherfahrung, die Parmenides und nach ihm viele andere erlebten und beschrieben, gehört der erfüllte ewige Augenblick, die Versetzung aus der Zeit in die Ewigkeit. Proust sagt darüber: Indem Gegenwart und Vergangenheit zusammenfallen kommt die „dauernde und gewöhnlich verborgene Essenz der Dinge zum Vorschein“.

Der Ausnahmezustand der Mach-Erfahrung oder der kosmischen Weitung mit Ich-Welt-Verschmelzung kann anscheinend auch künstlich, etwa durch Meskalin, herbeigeführt werden. „Ich war im Augenblick alles, ich war Wand, ich war Decke, Gehör, ich war es“, schildert eine Versuchsperson (S. 89) Im Lehrgedicht des Parmenides ist es eine Reise, die den wissenden, eingeweihten Mann zum entscheidenden All-Einheits-Erlebnis kommen läßt – sei es unter dem Einfluss von Drogen oder nicht. Ihr hat Peter Kingsley sein Buch gewidmet: Die Traumfahrt des Parmenides. Die mystischen Wurzeln der westlichen Zivilisation.

Das Lehrgedicht des Parmenides besteht aus drei Teilen: „Der erste Teil beschreibt seine Reise zu der Göttin, die keinen Namen hat. Der zweite beschreibt, was sie ihn über die Wahrheit lehrte. Der letzte Teil beginnt mit der Göttin, die sagt: Jetzt werde ich dich täuschen; sie fährt fort und beschreibt in allen Einzelheiten die Welt, in der wir zu leben glauben.“ (Die Traumfahrt des Parmenides, S. 51) – Hier die auf Griechisch überlieferte Reisebeschreibung in der Übersetzung von Peter Kingsley (Die Traumfahrt des Parmenides, S. 54 f ) und danach einige Erläuterungen von Peter Kingsleys zu diesem Text:

Die Stuten, die mich tragen, soweit das Sehen reichen kann,
gaben mir das Geleit, sobald sie gekommen waren, mich zu holen
auf die sagenhafte Bahn der Gottheit, die den Wissenden
durchs gesamte dunkle Unbekannte trägt.
Und weiter wurde ich getragen, indem die Stuten, die trefflich ihren Weg zu
finden wussten, an dem Wagen zerrend
Mich immer weiter trugen; und junge Frauen führten an.
Und in den Naben schrillte die Achse mit einer Pfeife Ton
Lodernd vom Druck der zwei wohlgerundeten Räder
Zu beiden Seiten, während sie geschwind weiter führten:
Junge Frauen, Mädchen, Töchter der Sonne,
gekommen waren sie aus den Häusern der Nacht ans Licht,
und mit ihren Händen hatten sie die Schleier vor ihrem Antlitz
beiseite geschoben.
Dort sind die Tore der Bahnen von Nacht und Tag,
fest gehalten zwischen Türsturz oben und einer Schwelle aus Stein.
Sie regen in die Himmel auf, gefüllt von gigantischen Türen.
Und die Schlüssel – die jetzt öffnen und schließen – sind
Fest gehalten von Gerechtigkeit: die, die stets auf das Genaueste
Vergeltung fordert. Und die jungen Frauen überzeugen sie geschickt
Mit sanft verführerischen Worten, den Riegel, der die Tore sperrt,
für sie sogleich zurückzustoßen. Und als die Türen aufflogen, wirbelten sie die bronzenen Achsen
mit ihren Stiften und Nägeln – jetzt die eine, jetzt die andere –
in ihren Pfeifen herum und schafften eine gähnende Kluft.
Geradewegs hindurch und weiter hielten die jungen Frauen
Fest an ihrem Kurs für Pferde und Wagen
geradewegs entlang der Bahn.
Die Göttin empfing mich gütig,
nahm meine rechte Hand in die ihre und sprach mich an
mit diesen Worten: ´Willkommen, junger Mann,
in Partnerschaft mit unsterblichen Lenkerinnen
gelangst du zu unserem Heim mit den Stuten, die dich tragen.
Denn es war kein hartes Schicksal,
das dich auf diese Bahn gesandt, fernab der ausgetretenen
Menschenpfade, vielmehr Gerechtigkeit und Recht.
Und was dir not tut ist zu lernen alle Dinge:
Sowohl das unerschütterliche Herz der überzeugenden Wahrheit,
als auch die Ansichten der Sterblichen,
in denen sich nichts findet, dem man wahrlich trauen kann.
Dennoch wirst du auch dies erfahren:
Wie Glaube, der auf Anschein beruht, glaubhaft sein sollte,
während er alles, was ist, völlig durchdringt.´

Kingsley erklärt: Ein Wissender ist ein Eingeweihter, der zu sterben, d.h. in eine andere Welt einzutreten versteht, bevor er stirbt (S.109). Parmenides´ Text ist ein Gedicht, ein Liedtext in Hexametern, der vorgetragen bzw. gesungen den Hörer womöglich selbst auf die Reise in eine andere Welt schickt - in einer Art Hypnose. Es ist ein Dichter, Heiler, Magier oder Schamene, der hier spricht. Man beachte die suggestive Wiederholung der Worte ´tragen´ und ´pfeifen´.

Getragen wird der Reisende von Sehnsucht (thymos), dem Wichtigsten, das wir für unsere Befreiung brauchen. Es ist Sehnen nach dem, was nicht vor unseren Augen liegt, aber mächtiger ist als das. Statt es, wie jetzt durch die mystische Reise, direkt anzusteuern, wird es gewöhnlich von Ersatzbefriedigungen überdeckt. Mystik wurde in unserer Kultur an den Rand gedrängt. (S. 38). Begleitet wird die Reise vom Ton der Stille (man zischt, um Stille zu erheischen), einem Zischen und Pfeifen (syrinx) der Radachsen und Türangeln am Tor zur Unterwelt. Pythagoras soll einen solchen Ton als Geräusch der Sterne auf ihren Bahnen im Zustand der Ekstase vernommen haben. (S. 117)

Junge Frauen begleiten den Reisenden. Sie waren aus den Häusern der Nacht ans Licht gekommen, um ihm entgegenzugehen. Jetzt führen sie ihn selbst dahin, von wo sie kamen, in die Unterwelt, das Reich des Hades und des Tartarus, denn von dort kommt das Licht, von dort steigt Helios täglich auf und kehrt dorthin zurück. Ziel der Reise sind die Tore von Tag und Nacht. Gleich hinter den Toren, durch die Tag und Nacht aus und ein gehen, dort beim Schlund des Tartarus und den Häusern der Nacht, so weiß es der griechische Mythos, residieren Hades und seine Gemahlin Persephone.

Diese (im Text namenlose) Göttin empfängt den Reisenden an seinem Ziel und versichert, dass nicht hartes Schicksal, also der Tod, ihn hierher geführt habe. Er ist also aus freien Stücken auf der Bahn des Todes gereist. Und er ist nun, ohne zu sterben, dahin gelangt, wohin die Toten gehen. Um ans Licht zu gelangen musste er in die Unterwelt, an die Stelle, wo Himmel und Erde ihre Quelle haben, wo Tag und Nacht erscheinen. Die Göttin reicht ihm die rechte Hand, Anerkennung und Wohlwollen signalisierend (S. 63). Er ist dem Tod und damit der Weisheit nicht davon gelaufen, er ist gegen den Strom geschwommen – weit weg von den ausgetretenen Menschenpfaden.

Was alle ignorieren, ist der Ort der Weisheit. „Sterben, bevor man stirbt, nicht mehr an der Oberfläche des Daseins zu leben: darauf verweist Parmenides. Das erfordert außergewöhnlichen Mut“, schreibt Kingsley. (S. 64) Man muss sterben, bevor man wiedergeboren werden kann. „Für uns scheint der Tod nur das Nichts zu bedeuten, ein Zustand, in dem wir alles hinter uns lassen müssen. Aber er bedeutet auch eine Fülle, die man kaum greifen kann, ein Ort, wo alles in Verbindung mit allem ist und nichts verloren geht. Doch um dies zu erfahren, muß man fähig sein, in der Welt der Toten bewusst zu werden.“ (S. 73)

Hier begegnet uns die Zen-Erleuchtung durch den Großen Tod wieder. „Tritt der Große Tod ein, werden Himmel und Erde neu.“, heißt es bei Nishitani (Was ist Religion?, S.68). Kingsley schreibt: „Es ist mehr als ein Zufall, dass so viele Geschichten über den griechischen Iatromantis (Heiler mit prophetischen Kräften, und ein solcher war der historische Parmenides von Elea, wie Kingsley in seinem Buch nachweist) und seine Praktiken ihre Prallelen bei den Schamanen haben und dass sie auch in den Traditionen des indischen Yoga immer wieder auftauchen: Was man in Griechenland bald überdeckte und ´rationalisierte´, wurde in Indien erhalten und weiterentwickelt. Was im Westen ein Aspekt des Mysteriums, der Einweihung war, wurde im Osten klassifiziert und formalisiert. Und dort hatte der Zustand, den die Griechen erschauten und erlebten, ... die Bezeichnung samadhi.“ (S. 104)

Die schamanische Tradition ist mindestens 20 bis 30 Tausend Jahre alt. Schamanen sind spirituelle Spezialisten der Naturvölker, Iatromantes oder Geistheiler. Sie können Kontakt zu parallelen spirituellen Welten aufnehmen, um von dort Wissen, Kraft und Hilfe für diejenigen mitzubringen, die sie benötigen. M.P. Fisher schreibt (in ihrem Buch Religionen heute) darüber: „Um in diese Welt einzutreten, muss der Schamane eine andere Bewusstseinsebene einnehmen. Dazu benutzt er Techniken, die auf der ganzen Welt angewendet werden: Trommeln, Rasselns, Gesänge, Tanz und in manchen Fällen halluzinogene Drogen. Damit soll das geöffnet werden, was die Schamanen der mexikanischen Huichol als Narieka bezeichnen, der Weg zum Herzen, der Kanal für die göttliche Macht, der Punkt, an dem sich die menschliche Welt mit der Geisterwelt trifft.“ (S. 58)

„Die ´Reise´, die Schamanen dann erleben, geht typischerweise in die Unterwelt oder in die Oberwelt. Für ihren Eintritt in die Unterwelt beben sich die Schamanen gedanklich durch ein real existierendes Loch – eine Quelle, ein hohler Baumstamm, eine Höhle, der Bau eines Tieres oder ein zeremoniell genutztes Loch, das als Nabel der Erde gesehen wird – in den Boden. Solche Eingänge führen meist in Tunnel, die sich weiteren Verlauf in hellen Landschaften öffnen. ...Um von der Welt der Lebende in die Welt der Toten zu gelangen, muss häufig ein Fluss überquert werden, der die Grenze zwischen beiden Welten markiert. In der Tradition West Afrikas existieren drei Flüsse, die diese Welten trennen und mit einem Kanu überquert werden müssen. Eine andere häufige Variante stellt das Passieren des Flusses der Unterwelt über eine Brücke dar, die von einem Tier bewacht wird. Der Reisende wird dabei meist von einem helfenden alten Mann oder einer alten Frau begleitet. Dieser weltweite schamanische Vorgang ist in Kulturen, die die ursprünglichen Lebensweisen unterdrückt haben, nur noch in Mythen enthalten, beispielsweise in der Geschichte von Orpheus.“ (S. 58 f)

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