Kapitel 3
Mystik (James, Nishitani)

Die persönliche religiöse Erfahrung hat ihre Wurzel und ihr Zentrum in mystischen Bewusstseinszuständen, schreibt James, und bedauert, dass seine eigene Konstitution ihn vom Genuss mystischer Zustände fast völlig ausschließt. Fast! Es gäbe da nämlich doch einen „mystischen Keim“ in ihm. „Es ist ein sehr gewöhnlicher (häufig vorkommender) Keim“, schreibt James an seinen Freund.

Dorothee Sölle zitiert das (wie oben gesagt) in ihrem Buch Mystik und Widerstand (1999), in welchem sie eine „Demokratisierung des Begriffs Mystizismus“ anstrebt, genauer: eine Mystik auch „für einfache Leute“ . Die Mystik habe nämlich den von ihr Ergriffenen „gegen mächtige, erstarrte, gesellschaftskonforme Institutionen geholfen“ und sie täte es noch heute). Bei diesem Keim setzt sie an: alle Menschen sind Mystiker, wenn sie denn diesen Keim entfalten und sensibel würden z.B. für die Erfahrung der Liebe. Das sei eine „allgemein-menschliche Erfahrung“. Sie bedeute „Hingabe an jemanden oder etwas, das nicht ´ich´ ist, in der gerade das Ich als Gefängnis erscheint, viel zu eng und zu klein für die Wirklichkeit des Du. Ehe ich dich kannte, so sagen die Verliebten, war ich blind und taub, kannte die Sprache der Blumen und Vögel nicht, ich lebte ohne zu leben.“ (Mystik und Widerstand, S. 39) - „Vermählungsbegeisterung“ nannte James (Die Vielfalt der religiösen Erfahrung, S. 80) diese „zusätzliche Gefühlsdimension“, in der ihm die Bedeutung der Religion zu liegen schien.

Grundzüge der mystischen Überwältigung sind „das Gefühl des Einsseins mit allem, was lebt; die Versenkung oder das Eintauchen in das zuvor unbekannte Ganze; das Aufhören des Ego und zugleich die Entdeckung des wahren Selbst; das Erstaunen; die intensive unbegründbare Freude.“ (Mystik und Widerstand, S. 39)

James nennt vier Merkmale mit denen er mystische Zustände von anderen religiösen Erfahrungen unterscheiden kann: 1. Unaussprechlichkeit. Sie ähneln eher emotionellen als intellektuellen Zuständen. 2. Noetische Qualität: Sie lassen den Betroffenen eine tiefe Einsicht in Wahrheiten spüren, die für den Verstand unzugänglich sind. 3. Flüchtigkeit. Sie dauern höchstens ein bis zwei Stunden, dann tritt die Alltäglichkeit wieder ein. 4. Passivität. Obwohl manchmal willentlich eingeleitet, fühlt der Betroffene im mystischen Zustand seinen Willen außer Kraft gesetzt.

James berichtet auch von eigenen Erfahrungen, allerdings von künstlich, mit Lachgas herbeigeführten mystischen Bewusstseinszuständen. Er gewann dabei den Eindruck, „dass unser normales Wachbewusstsein, das rationale Bewusstsein, wie wir es nennen, nur ein besonderer Typ von Bewusstsein ist, während um ihn herum, von ihm durch den dünnsten Schirm getrennt, mögliche Bewusstseinsformen liegen, die ganz andersartig sind. Wir können durch das Leben gehen, ohne etwas von ihrer Existenz zu ahnen; aber man setze sie nur einem entsprechenden Reiz aus, und schlagartig sind sie in ihrer ganzen Vollständigkeit da: genau umrissene Geistesarten, für die es wahrscheinlich irgendwo auch Anwendungs- und Erprobungsbereiche gibt. Keine Betrachtung des Universums kann abschließend sein, die diese anderen Bewusstseinsformen ganz außer Betracht lässt.“ (Die Vielfalt der religiösen Erfahrung, S.390 f)

„Wenn ich auf meine eigenen Erfahrungen zurückblicke, laufen sie alle zu einer Art Einsicht zusammen, der ich eine gewisse metaphysische Bedeutung nicht absprechen kann. Ihre gleichbleibende Grundstimmung ist Versöhnung. Es ist, als wenn die Gegensätze der Welt, die Widersprüchlichkeiten und Konflikte, die die Ursache unserer ganzen Schwierigkeiten und Sorgen sind, zu einer Einheit verschmelzen.“ (S.391)

Etwas Ähnliches scheint Hegel in seiner Philosophie der Versöhnung, d.h. der aufgehobenen Gegensätze zu meinen, fügt James hinzu. Und die Lebendigkeit ihrer Wahrheit erführe er (leider?) nur in künstlich herbeigeführten mystischen Bewusstseinszuständen. Was soviel heißt, dass Hegel zu verstehen, Mystik erfordert. Für nicht besonders Mystik-Begabte ist das erst einmal Lachgas, Äther oder Chloroform.

Kann man denn „im Lachgasrausch eine echte metaphysische Offenbarung empfangen“? (S. 390) Und wenn unter dem Einfluss von Chloroform einem der Gott begegnet ist „in all seiner Reinheit, Freundlichkeit, Wahrheit und Liebe“, war dass dann eine Offenbarung, oder „hatte mir nur die abnorme Erregung meines Gehirns einen Streich gespielt“? – Aber, aber, beruhigt uns James: Warum sollte ich nicht, als der Körper durch Chloroform oder Ähnliches für das Normalempfinden physischer Beziehungen tot war, eine wirkliche Erfahrung gemacht haben und gefühlt haben, was einige Heilige immer schon erfuhren: „die unbeweisbare, aber unzerstörbare Gewissheit Gottes?“ (S. 393)

Ob spontan auftretend, ob durch Nervengifte eingeleitet oder methodisch, z.B. durch Yoga, herbeigeführt: Immer sind physiologische Prozesse, das heißt Hormonausschüttungen, Botenstoffe (Neurotransmitter) im Spiel – wie bei jedem Bewusstseinszustand. Die Zuführung gewisser Stoffe (Drogen, Nervengifte) von außen, wie z.B. Morphium, kann nicht Kriterium sein für den Sinn oder Unsinn einer Erfahrung im Zustand nach ihrer Zuführung, denn ihre Rolle können auch körpereigene Stoffe, z.B. im Gehirn produzierte Opiate (Endorphine) übernehmen. Sie werden z.B. unter Stress oder bei Angst ausgeschüttet. Der Yoga-Adept gelangt durch bestimmte Ernährung, Haltung, Atem, intellektuelle Konzentration und moralische Disziplin in die Samadhi genannte Verfassung. Da gibt es „kein Ich-Gefühl und dennoch arbeitet der Geist, wunschlos, frei von Unruhe, gegenstandslos, körperlos.“ (James S. 399)

Keiji Nishitani hat (in seinem Buch Was ist Religion?) darauf hingewiesen, dass jene Ich-Losigkeit als Resultat des sog. „Großen Zweifels“ (in der Zen-Buddhistischen Zweifels-Übung) erreicht werden kann. Im Großen Zweifel wird das Descartessche Zweifeln radikalisiert. Der Große Zweifel betrifft Descartes´ durch Zweifeln erreichte vermeintlich unbezweifelbare Ich. Das Descartessche Ich, auf das ich im methodischen Zweifel treffe als das unbezweifelbare ego cogito ist ein „an sich selbst haftendes Selbst“, schreibt Nishitani (S. 59) Wenn das Ich-denke aus derselben Position des Ich-denke aus anvisiert wird, hat dies zur Folge, dass die Wahrheit des Ich-denke ihren Evidenzcharakter verliert. Das ego weiß, was seinen Seinsgrund betrifft, dann nicht mehr ein noch aus.

Wir müssen das Ich-denke also von einer anderen, fundamentaleren Ebene als der des Selbstbewusstseins her denken, allerdings nicht im Sinne von Objektivieren, sondern als ein Zu-sich-Kommen des Selbst. „Das Ich-denke ursprünglich denken, ist in diesem Sinne ein existentielles Denken. Dieses ursprüngliche Denken selbst und das fundamentale Sein des Selbst sind dasselbe.“ (S. 60) - Die Religion ist dann für Nishitani „eine existentielle Aufdeckung der Problematik, die in der alltäglichen Seinsweise des Selbst enthalten ist.

Im Vorhof der Religion tritt immer der Zweifel auf, der Zweifel an der eigenen Existenz wie der aller anderen und aller Dinge angesichts von Endlichkeit, Tod und Verlust geliebter anderer. Wir können uns dann des Todes und des Nichts in uns selbst bewusst werden. Das ist nicht Selbstbewusstsein, sondern Durchbrechung der Ebene von Bewusstsein und Selbstbewusstsein. Unser Selbst wird realiter selbst zum Zweifel. Es wird selbst die Realisation des Großen Zweifels, der in sich Realität ist. Dieser Zweifel heißt samadhi (Erleuchtung, geistige Sammlung). „Er ist nichts anderes als die Form, in der das Nichts (nihilum), oder der Tod, sich uns vom Grund unseres Seins her vergegenwärtigt und somit unvermittelt erkannt wird - erkannt als Realität. Hier wird das Nichts, oder der Tod, geistig, indem es durch seine eigene Realisation (im Sinne von Verwirklichung) uns geistig werden lässt.“ (S. 67)

Nishitani zitiert eine volkstümliche Zen-Rede, eine Predigt von Takusui, die den Großen Zweifel hervorhebt: „Der Weg der Einübung ist der folgende: Du musst Zweifel aufkommen lassen an dem Subjekt in dir, das alle Stimmen hört. ... Immer und immer wieder musst du zutiefst zweifeln und dich fragen, welches das Subjekt des Hörens sein könnte. ... Aber wie sehr du auch weiter zweifelst, es wird dir unmöglich sein das hörende Subjekt kennen zu lernen. Dann musst du gerade dort, wo es sich nicht feststellen lässt, noch tiefer eindringen. Zweifle inbrünstig in einem Zustand der Einfalt und sieh weder vor dich noch hinter dich, nicht nach rechts, nicht nach links, werde ganz und gar wie ein Toter, so dass du noch nicht einmal bemerkst, dass du selber anwesend bist. Wenn dieser Weg immer inständiger beschritten wird, wirst du einen Zustand völliger Abwesenheit und Leere erreichen. Selbst dann musst du den großen Zweifel: Welches ist das Subjekt, das hört aufrichten und weiterzweifeln, indem du die ganze Zeit ganz und gar wie ein Toter bist. Und danach, wenn du nicht mehr weißt, dass du ganz und gar wie ein Toter bist, dir nicht mehr der Prozedur des Großen Zweifels bewusst und selber durch und durch zu einer großen Zweifelsmasse geworden bist, da wird urplötzlich ein Augenblick kommen, in dem du in eine Art Transzendenz, genannt die Große Erleuchtung, gelangst, als erwachtest du von einem großen Traum oder als wärest du, der ganz und gar Tote, wieder lebendig.“ (S. 66 f)

„In diesem Augenblick ist das Selbst zugleich das Nichts des Selbst“, fügt Nishitani hinzu, „und mit diesem Nichts tut sich die Ebene auf, auf der sich auf dem großen Zweifel eine völlige Umkehr ereignen kann. In ihr wird die Existenzweise überwunden, in der das Ich die treibende Kraft ist. Himmel und Erde werden neu. Was sich ergibt, ist die wahre Realität des Selbst und aller Dinge, d.h. diese Realität ist genau deren Anwesenheit als das, was sie sind, jedes in seiner Soheit. ... Diese Erleuchtung wird im Buddhismus die Große Weisheit genannt, eine Weisheit, die nichts anderes als ein Aspekt unserer religiösen Existenz selbst ist.“ (S. 68).

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