Kapitel 2
Biologie der Religion (Wilson)

„Religion – eine List der Gene?“ – fragt Edward O. Wilson (in seinem Buch Biologie als Schicksal von 1980). Lassen uns Religionsgene, evolutioniert durch die bessere Fortpflanzungsrate religiöser Individuen und Gruppen, an höhere Mächte glauben? – Wenn das stimmte, dann wäre das Dilemma derer, die diese Wahrheit erkannt haben, dieses: Sie müssten an eine andere Wahrheit glauben als die, welche sie wüssten. Wilson: „Der menschliche Geist hat sich so entwickelt, dass er an Götter glaubt, nicht an Biologie.“ (Die Einheit des Wissens, S. 348)

Mag die Menschheit auch, wie Aristoteles meinte, insgesamt der Erkenntnis entgegenstreben, schreibt Wilson, so scheint die Erkenntnis doch begeistert in den Dienst der Religion gestellt zu werden. Das technisch und wissenschaftlich höchstentwickelten Land der Erde, die USA, ist nach Indien das religiöseste. Dort glauben 94 Prozent der Menschen an Gott oder höhere Wesen. 31 Prozent erlebten religiöse Erweckungen oder Offenbarungen.

Wissenschaft und Aufklärung werden Religion wohl schwerlich verbannen können. Und welchen Sinn es hat, „dass der unwiderstehliche wissenschaftliche Materialismus zum unerschütterlichen religiösen Glauben im Widerspruch steht“, scheint unerfindlich. Mag die Wissenschaft auch die Religion erklären, ihre Bedeutung kann sie wohl nicht vermindern. Es könnte ja sein, dass unsere Gesellschaft ihren Fortschritt der Erkenntnis verdankt, ihr Überleben aber aus „einer Inspiration, die gerade aus den Glaubensvorstellungen stammt, welche die Erkenntnis zu erschüttern sucht.“

Wenn Religion also naturwissenschaftlich oder biologisch erklärt wird, so bringt das die Religion nicht zum Verschwinden. Ihre vitale Kraft in der Gesellschaft wird fortbestehen. Der wiss. Naturalismus besitzt eine solche Kraftquelle nicht. Er bietet zwar auch eine Art Mythos, das Evolutionsepos. Doch die Evolution geht über die Individuen hinweg, sie werden verbraucht als Vehikel der Gene. Das Evolutionsepos versagt dem Individuum Unsterblichkeit. Religiöse Mythen entsprechen anderen Einsichten bzw. Erkenntnisquellen als die der Naturwissenschaft, nämlich Wirklichkeitserfahrungen in anderen Bewusstseinszuständen wie z.B. Nahtoderfahrungen, Außerkörperlichkeitserlebnissen, Erleuchtungen, Bekehrungen usw..

Schamen und Priester sind die Gewährsleute dafür. Sie beschwören uns: „Vertraue auf die heiligen Rituale, werde Teil der unsterblichen Kraft, du bist einer von uns. Jeder Schritt in deinem Leben hat eine mystische Bedeutung und wird durch uns, die wir dich lieben, zu einem feierlichen Übergangsritual erklärt, deren letztes du bewältigt hast, wenn du in die andere Welt eingehst, die frei von Schmerz und Furcht sein wird.“ (Die Einheit d.W., S.342 f)

Religionsgläubigkeit ist etwas Instinktives, schreibt Wilson. Religiöse Mythen seien aber darum nicht unwahr. Wilson geht es um die Feststellung, „dass religiöse Ursprünge tiefgründige sind als die Wurzeln von Alltagsverhalten, dass sie in unserem Erbgut verankert sind und dass sie durch die systematischen Tendenzen unserer geistigen Entwicklung, die in den Genen kodiert sind, zum Leben erweckt werden.“ (343) Er meint denn auch:„Der M braucht heilige Mythen. Er muss das Gefühl haben, dass es einen höheren Sinn für alles gibt, egal welcher es ist und wie stark er auch intellektualisiert sein mag. Der Mensch wird sich nicht der Hoffnungslosigkeit animalischer Sterblichkeit unterwerfen. Er wird immer Fragen: ´Und nun, Herr, worauf soll ich hoffen?´ Er wird eine Möglichkeit finden, die Geister seiner Vorfahren am Leben zu halten.“ (S.352)

Was heißt nun: Religion naturwissenschaftlich zu erklären? Es heißt, sie als evolutionäre Errungenschaft zu verstehen. - Seit der Zeit der Knochenaltäre und mutmaßlichen Bestattungsriten der Neandertaler hat die Menschheit etwa 100000 Religionen hervorgebracht. Sie gleichen anderen menschlichen Institutionen darin, dass sie der Wohlfahrt ihrer Anhänger förderlich ist, also einen demographischen Vorteil bieten, der teils durch Altruismus, teils durch Ausbeutung (wie es der Konkurrenz zwischen Arten entspricht), erlangt wird. Wilson: „Wenn religiöse Praktiken das Überleben und die Fortpflanzung der Anhänger fördern, werden sich die physiologischen Steuerungsmechanismen, die den Erwerb solcher Praktiken durch das Individuum begünstigen, ausbreiten. Zugleich werden diejenigen Gene, von den solche Steuerungsmechanismen abhängen, begünstigt.“ (S.92)

„Die höchsten Formen der Religionsausübung verleihen, betrachtet man sie näher, einen biologischen Vorteil. Vor allem festigen sie die Identität. Inmitten der chaotischen Erfahrungen, die jeder täglich durchmacht, gibt die Religion einem einen festen Ort, erschafft sie einem die fraglose Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die über starke Kräfte zu verfügen behauptet, und vermittelt einem dadurch ein vorwärtstreibende Ziele im Leben, das mit dem Eigeninteresse vereinbar ist. Die Stärke des Individuums ist die Stärke der Gruppe, sein Leitbild der heilige Bund. Der  Theologe und Soziologe Hans J. Mol hat diesen entscheidenden Prozess treffend als ´Sakralisierung der Identität´ bezeichnet. Der menschliche Geist besitzt eine Prädisposition – man darf vermuten dass Lernregeln physiologisch programmiert sind -, an einigen Sakralisierungsvorgängen mitzuwirken, aus denen zusammen die Institutionen der organisierten Religion erwachsen.“ (Religion - eine List der Gene? S.103)

Im Wesentlichen sind es drei Sakralisierungsvorgänge (vgl. Die Einheit des Wissens, S. 344:): 1.Darstellung der Realität mit Hilfe von Bildern und Definitionen wie Himmel und Hölle, Götter, die über die Natur gebieten, oder Geister. Bilder und Definitionen, die geradezu archetypisch zu jenen besonderen Bewusstseinszuständen gehören, welche die religiöse Erfahrung bilden, wovon nachher zu handeln sein wird. 2. Gelöbnis als Akt der Unterwerfung oder emotionaler Selbstaufgabe im Sinne eines mystischen Bundes mit Schamanen und Priestern, durch deren Auslegung die Gebote Glaubwürdigkeit erlangen. 3. Mythen über die Entstehung der Welt und insbesondere des eigenen Stammes (siehe Bibel, Altes Testament bzgl. des Stammes Israel).

Religiöses Verhalten könnte sich also größtenteils oder vollständig durch natürliche evolutionäre Auslese herausgebildet haben. Die biologische Erklärung für religiöses Verhalten deckt sich zumindest mit einigen Aspekten der Gottesgläubigkeit: „Sühne und Opfer, beides zusammen universale religiöse Praktiken, sind Akte der Unterwerfung unter ein beherrschendes Wesen und bedingen daher Dominanzhierarchie; diese aber ist ein allgemeines Merkmal aller Säugetiergesellschaften.“ Rudolf Bilz (vgl. Die Lehre des Unheils, S.167) weist darauf hin, dass sich der Gebetsgeste der erhobenen Armen sich der Morosche Umklammerungsreflex, gemäß dem der Säugling sich am Hals der Mutter festhält, erhalten haben könnte.

Auffallend sind die semiotischen Ähnlichkeiten zwischen dem animalischen und jenem devoten Verhalten, das der Mensch religiösen und zivilen Autoritäten gegenüber anzunehmen pflegt.“ Man kann daraus schließen, dass sich der Homo sapiens nicht nur angesichts seiner Anatomie, sondern auch angesichts seines grundlegenden Sozialverhaltens wohl erst vor kurzer evolutionärer Zeit von einer nichthumanen Primatenlinie abgespalten haben kann.“ „Getreu seinem Primatenerbe ist der Mensch leicht durch selbstsichere, charismatische und vor allem männliche Führungspersönlichkeiten verführbar. Am stärksten zeigt sich diese Veranlagung bei religiösen Organisationen.“ (Vgl. Die Einheit des Wissens, S. 344 ff)

„Die Religion bietet Gebete und Rituale zur direkten Kontaktaufnahme mit dem höchsten Sein, sie offeriert den Trost der Mitgläubigen zur Milderung ansonsten unerträglicher Leiden, Erklärungen für das Unerklärliche und die Möglichkeit, in ein Meer aus gemeinschaftlichem Zugehörigkeitsgefühl zu jenem größeren Ganzen einzutauchen, das sich der reinen Vernunft entzieht. Gemeinschaft ist das Schlüsselwort. Sie schürt die Hoffnung, aus dem Dunkel der Seele die spirituelle Reise ins ewige Licht anzutreten. Für einige wenige erfüllt sich diese Hoffnung bereits zu Lebzeiten. Der Geist lernt, auf bestimmte Weise zu reflektieren, und immer höhere Stadien der Erleuchtung zu erreichen, bis er schließlich dort anlangt, wo kein Weiterkommen mehr möglich und die mystische Einheit mit dem Ganzen erreicht ist. Bei den Weltreligionen sind es die hinduistischen Samadhi, die Zen-Sartori, sufischen Fana, taoistischen Wu-wie und die Wiedertäufer der christlichen Pfingstbewegung, die auf solche Weise Erleuchtung suchen. Ähnliches erleben auch die halluzinierenden Schamanen ungebildeter Kulturen.“ (Die Einheit des Wissens, S.346) Sie alle haben das Glück, Gott zu finden, sich in etwas Vollständigem und Großen aufzulösen.

Aber eben nicht alle. Anscheinend fehlt manchen überhaupt die Begabung dazu. Oder es mangelt an der Technik der Hinführung zu solchen Bewusstseinszuständen. Mönche, Nonnen, Schamanen und Priester, sie sind gewissermaßen Profis für religiöse Erfahrung. Sie schaffen das sogar unter Laborbedingungen, speziell im Tomographen SPECT (Single photon emission computed tomographie). So konnte man ihre Gehirnaktivitätsbilder vergleichen. Man fand dieselben Muster bzw. Aktivitätszonenzustände bei buddhistischen Mönchen und Franziskanerinnen währen der Meditation und des kosmischen Verschmelzungserlebnisses! Das Gehirn macht die Erleuchtung möglich, also die biologische Ausstattung zumindest sehr, sehr vieler Menschen. Die Versuche mit dem extrakraniellen Magnetstimulator zeigen, dass solche Erlebnisse auch ohne eigene Anstrengung bzw. Meditationsvorbereitung ´simuliert´ werden können. Oder sind sie nicht gerade die echteren?

Alles deutet auf eine universelle menschliche Veranlagung oder einen religiösen Sinn, der aber wohl unterschiedlich empfindlich ist.

Unsere biologische Ausstattung ist ein Evolutionsprodukt. Der Mensch kann gezielt in sie eingreifen, insbesondere durch Genomveränderung. Womöglich kann der religiöse Sinn so eliminiert werden, oder aber auch verstärkt und die religiöse Erfahrung womöglich permanent gemacht und universalisiert werden. In gewisser Weise entscheidet der Mensch dann darüber, ob es Gott gibt oder nicht. – Aber auch, ob der Mensch Mensch bleibt oder ob in ein posthumanes Wesen mutiert. Gehört nicht Religion zum ´Wesenskern´ des Menschen?

Francis Fukyama schreibt (in seinem Buch von 2002 Das Ende des Menschen, S. 299 f): „Wir sind möglicherweise dabei, in eine nachmenschliche Zukunft einzutreten, in der die Technologie uns die Fähigkeit verleiht, diesen Wesenskern im Laufe der Zeit langsam aber sicher zu verändern.“ Bis zur Unkenntlichkeit dessen, was ein menschliches Wesen ist!

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