Kapitel 1
Neurotheologie

Um Gott zu erleben, braucht man nur seinen Schläfenlappen zu stimulieren.

Aber ist das dann Gott? Ist so einfach die Bekehrung des Atheisten?

Den auf die Kopfhaut aufzusetzenden transkranialen (nicht wie bei Elektrodeneinführung intrakranialen) Magnetstimulator mit rasch fluktuierenden starken Magnetfeldern auf kleinen Gehirngebieten gab es längst. Man konnte durch Stimulierung des motorischen Kortex z.B. die Finger sich krümmen lassen, durch Reizen des Septum im Innern des Gehirns übermäßig lustintensive Orgasmen erzeugen und bei Blindgeborenen durch Anregung visueller Felder, sofern diese intakt waren, nie erlebte Farbwahrnehmung hervorrufen. Da machte Michael Persinger den Selbstversuch mit seinem linken Stirnlappen, und hatte zum ersten Mal in seinem Leben ein Gotteserlebnis. Das, was so mancher (nicht jeder!) Epileptiker erlebt, dessen Anfälle in diesem Teil des Gehirns entstehen. Nicht nur während der Anfälle haben sie meist intensive spirituelle Erfahrungen. Sie beschäftigen sich auch in den Zwischenzeiten oft eingehend mit religiösen und moralischen Fragen, schreiben Vilaynur S. Ramachandran und Sandra Blakeslee (in ihrem Buch von 1998 Die blinde Frau, die sehen kann).

Solche Leute sind sog. Schläfenlappenpersönlichkeiten. Sie haben gesteigerte Gefühle und erblicken eine kosmische Bedeutung in trivialen Ereignissen. Während des Anfalls erleben sie Verzückung, Wonne, reine Anschauung des Göttlichen und haben das Gefühl vollständiger Klarheit und vollkommenen Wissens. Sie sagen zum Beispiel: „Jetzt weiß ich, was das alles soll. Das ist der Augenblick, auf den ich mein ganzes Leben lang gewartet habe. Plötzlich gibt alles einen Sinn.“ Oder: „Endlich habe ich Einblick in das wahre Wesen des Kosmos.“ Das Gefühl der Erleuchtung und Kommunikation mit Gott, die absolute Überzeugung, der letzten Wahrheit teilhaftig zu sein, so konstatiert der Hirnforscher Ramachandran, entspringt limbischen Gehirnteilen, solchen also, die mit dem Gefühl befasst sind, und nicht den vernünftigen Teilen des Gehirns.(S.290) Ist Gott eine unvernünftige Vorstellung und das gefühlte Wissen kein echtes Wissen? Muss eine solche Vorstellung und ein solches Wissen nicht überprüfbar sein – von ´normalen´ Menschen wie ich und du? Doch halt! Vielleicht sind religiöse dabei, womöglich Schläfenlappenpersönlichkeiten. Dürfen die mitentscheiden? Sind sie nicht die Privilegierten? Sie allein können doch die Wahrheit schauen?

Ramachandran und Blakeslee schreiben: „Gott gewährt uns ´normalen´ Menschen nur gelegentliche Ausblicke auf eine tiefere Wahrheit (mir werden sie zuteil, wenn ich einer besonders ergreifenden Passage eines Musikstückes lausche oder den Jupitermond durch ein Teleskop betrachte), dagegen genießen diese Patienten das einzigartige Privileg, bei jedem epileptischen Anfall, den sie haben, unmittelbar in Gottes Angesicht zu blicken. Wer wollte entscheiden, ob solche Erfahrungen ´echt´ oder ´pathologisch´sind?“ D. h. wohl: ob Gott echt ist oder nur eine Halluzination.

Ähnlich steht es mit der Frage, ob es Engel gibt oder nicht. Rund ein drittel der Amerikaner gibt an, schon einmal Engel gesehen zu haben – ebenso viele wie bei Geistern und UFOs. Diese Erlebnis- bzw. Wahrnehmungsfähigkeit geht vielleicht auf eine Beeinträchtigung des Sehsystems (Charles Bonnet-Syndrom) zurück, die sehr häufig bei älteren Menschen anzutreffen ist (wie Netzhautablösung, diabetische Retinopathie oder grauer Star). Ramachandran und Blakeslee berichten ausführlich von den visuellen und z.T. damit verbunden auch akustischen Halluzinationen dieser Leute. Außer Engeln kommen dabei allerdings auch Clowns, Elfen und Zirkustiere vor.

Für die Entstehung von Illusionen, die sich im Sehfeld als visuelle Wahnehungen ausmachen, wird eine dem Seepferdchen ähnliche und deshalb Hippokampus genannte Hirnregion verantwortlich gemacht. Es ist eine Art Zensurstelle, wo entschieden wird, welche einlaufenden Daten zusammengehören und welche sich widersprechen. Das Wahrgenommene wird ständig mit dem Erwarteten verglichen. Was zu ungewöhnlich ist, wird verworfen. Ist der Filter zu streng, wird nur erfahren, was man schon weiß. Ist er zu lax bzw. geschwächt (das kann durch Drogen, Trance und Schlafentzug eintreten), können sich plötzlich neue Bedeutungszusammenhänge und Bilder ergeben, die sonst nicht zugelassen würden: Comic-Figuren bevölkern den Raum, und eben auch Engel. Auch Erleuchtung, meint Hinderk Emrich, bestehen möglicherweise darin, dass die Selbstzensur im Hippokampus überrannt wird.

Wie kann es sein, dass Gott und Engel sich vorzüglich Anormalen, d.h. Hirngeschädigten, zeigen und die meisten Normalen in der Verwirrung belassen, ob es sie überhaupt gibt oder nicht. Wäre es für solche Geister nicht ein leichtes, sich allen zu zeigen und überall?

Geben wir noch einmal einem Dichter, es ist Rainer Malkowski (ist er ein Normaler?), das Wort (aus H.E. Kaliniwski/ R. Malkowski, In den Fugen der Biographie, zitiert in Die Zeit Nr.42 vom 10.10.2002):

Ich Geschöpf

Gott hat mich Dienstag
mit den Augen eines Bären angesehen.
Gegen 13 Uhr,
im Zoologischen Garten Berlin.
Ein zerstreuter Blick,
wie mir schien – oder von
schonungsvollem
Desinteresse.
Du hast noch Glück,
sagte ich zu mir.
Und trollte mich.

Wir, oder einige von uns, ertragen es wohl eher, das Gotteserlebnis zu trivialisieren als zu pathologisieren und lächerlich zu machen. Was wäre der Mensch denn ohne Religion, d.h. ohne metaphysische Mission, die ihm in der religiösen Erfahrung, der Erfahrung übersinnlicher und oder eigentlicher Wirklichkeit, verbürgt scheint. – John Milton in seinem Verlorenen Paradies sagt es so:

„... Denn wer wollte gar,
Wenn auch gepeinigt sehr, dies geistig Wesen,
Das denkend Ewigkeiten durchmisst,
Verlieren, um vollauf zu Grund zu gehen,
Verschluckt und aufgelöst im weißen Schoß
Der unerschaffnen Nacht, beraubt des Sinns
Und Lebens? ...

Ramachandran und Blakeslee zitieren das und erwägen, ob nicht im menschlichen Gehirn ein durch die Evolution entwickelter, also nützlicher, auf religiöse Erfahrung spezialisierter Schaltkreis besteht, ein sogen. Gottmodul hinter dem linken Ohr - und bemerken (angeblich scherzhaft), dass es dafür bestimmte Gene geben müsste, die Atheisten nicht haben. Die Entstehung eines solchen Moduls, seine Herausdifferenzierung durch Mutation und Selektion, könnte man sich in etwa so vorstellen: Bevorzugt werden Gene für konformistisches Verhalten, das zur Gruppenstabilisierung beiträgt. Religionen entsprächen so der menschlichen (oder ist es eher eine hündische?) Tendenz, nach Autoritätsfiguren (dem Herrn oder Herrchen) zu suchen. Sie manifestiert sich in der Schaffung einer organisierten Priesterschaft, der Teilnahme an Ritualen, an gemeinschaftlichen Tänzen und Gesängen, in Opferriten und in der Befolgung eines Moralkodex.

Für die evolutionäre Herausbildung von Religion als ein Merkmal der menschlichen Natur stehen zwei Modelle zur Verfügung: Entweder wurde das Gehirn mit jenen religiösen Schaltkreisen (dem sogen. Gottmodul) ausgestattet, weil das einen Selektions- bzw. Fortpflanzungsvorteil brachte. Das ist die Adaptionstheorie. Oder die religiöse bzw. übersinnliche Wahrnehmung ergab sich ganz nebenbei als Begleitprodukt des Gehirnwachstums, ohne sonderlichen Überlebensvorteil und auch nicht Nachteil. Das ist die Exaptationstheorie. Zu ihr tendieren Theologen, können sie doch dabei einen transzendenten Eigensinn der Religion geltend machen und auch einen übersinnlichen Ursprung. Der Theologe Ohlig spricht vom Durchbrechen einer ontologischen Ebene (des Diesseits hin zum Jenseits oder Übersinnlichen, der eigentlichen Wirklichkeit), er nennt das mit dem Religionsforscher Mircea Eliade rupture de niveau ontologique oder rupture de niveau. Er schreibt (Religion in der Geschichte der Menschheit, S. 19):

„Obwohl die menschliche Gattung aus evolutiven Naturprozessen hervorgegangen ist, obwohl der Mensch den Naturgesetzen unterworfen ist – und dies auch weiß-, obwohl er in seiner Erkenntnisfähigkeit auf die empirische Welt beschränkt ist – und sich dessen seit der ´kritischen Wende´ in der Neuzeit auch zunehmend bewusst ist-, vollzieht er immer wieder eine ´rupture de niveau´.“ Wodurch? Dadurch, dass er, wie wir es eben von Nishitani hörten, immer wieder die Sinnfrage stellt und dabei „eine ´letzte´ Ohnmachts- und eine ebenso strukturierte Ganzheitserfahrung macht“. „Diese ´rupture de niveau´ scheint in Hinblick auf die Zwecke der Evolution überflüssig zu sein, sie verhilft weder zur besseren Anpassung an die Situation noch zu einem Gewinn an Energie und somit auch nicht zum Erfolg im ´Kampf ums Dasein´.“ Aber erst dadurch, dass die Menschen solch evolutiv Unnützes tun wie die Kräfte der Vegetation in Tänzen und Riten beschwören, beten und lyrische Worte stammeln, würden sie erst zu Menschen. Sie handeln dann aus einem „Überschuss an Sinnfrage und -erfahrung“, schreibt Ohlig, und insistiert darauf: „Religion ist evolutiv überflüssig und zugleich eben dadurch zutiefst human.“ Soziobiologen können dem nicht zustimmen.

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