Kapitel 1
Was ist Religion? Und wie kann man es wissen?

Zunächst die Worterklärung. Die ist strittig. Cicero, im 1. Jh. v. Chr., leitet das Wort religio von relegere ab, was soviel wie aufmerksam befolgen oder gewissenhaft beachten bedeutet. Der Wortsinn von religio bzw. Relgion wäre dann „Gewissensscheu“. So steht es im ´Deutschen Wörterbuch´ von G. Wahrig. Um 300 n. Chr. führt der christliche Schriftsteller Lactantius das Wort religio auf religare zurück, was wieder verbinden bedeutet. Diese Bedeutung von Religion als Rückbindung vertritt auch der Kirchenvater Augustinus, der um 400 n. Chr. lebte.

Nach Cicero ist Religion also die sorgfältige Beachtung alles dessen, was zum Kult der Götter gehört. Und nach Lactantius und Augustinus eine Rück- oder Wiederverbindung mit Gott.

Wir brauchen uns nicht für die eine oder andere Etymologisierung zu entscheiden, trifft doch der eine wie der andere Wortsinn durchweg auf das zu, was man in tausenderlei Varianten Religion nennt: historische Erscheinungen, denen (mit Ausnahme des frühen Buddhismus, der ohne Gottheiten auskommt) ein spezifischer Bezug zwischen dem überweltlich Heiligen (Gott und Göttern, höheren Mächten) und dem Menschen zugrunde liegt, ein Bezug, der das Verhalten der Menschen normativ bestimmt.

„Mit der Gottheit als überwertigem Zentrum jeder Religion verbindet sich das Offenbarungserlebnis des Stifters, dessen Wirken auch für die Religionen angenommen werden muss, die in vor- bzw. frühgeschichtlicher Zeit entstanden.“ So steht es in Meyers Lexikon. Weiter heißt es da: „Jeder Religion eignet eine die Gesellschaft strukturierende Kraft, die zur Organisation von Gemeinden, Kirchen oder Orden und bis zur Identifikation der Religion mit dem Staat führen kann. ... Jede Religion manifestiert sich in profanen Erscheinungsformen, die durch sie geheiligt werden. ... Die Existenzweise des religiösen Menschen äußert sich in der Hingabe an die Gottheit, die vor allem im Gebet, Dank, Opfer und in der Heiligung wichtiger Einschnitte des Lebens, Geburt, Hochzeit und Tod, zum Ausdruck kommt.“

Henri Bergson unterscheidet (in seinem Buch von 1932 Die beiden Quellen der Moral und der Religion) die statische von der dynamischen Religion. Erstere dient hauptsächlich der Bewältigung des Sterbenmüssens, bietet Abwehmaßnahmen gegen die Bedrohung durch die Natur in Magie, Geisterglauben und Göttervorstellungen. Mit ihren für Solidarität sorgenden Riten und Zeremonien wirkt sie gesellschaftsstabilisierend. Letztere, die dynamische Religion, gründet im Mystischen. Nach Bergson ist das die Erfassung des „élan vital“, der schöpferischen Energie des Universums oder Gottes.

Haben womöglich schon die Affen eine Ahnung davon? – In Südafrika hat man beobachtet, wie eine Gruppe von Pavianen plötzlich zur Sonne blickt, sobald diese den Horizont berührt, und mit ekstatischem Bellen ihren Untergang begleitet (Der Spiegel 21, 2002, S. 198).

Der Brockhaus kennzeichnet Religion als das Erleben und Erfahren einer höheren, sich in Dingen und Naturerscheinungen manifestierenden Macht, auf die der Mensch mit seinem Glauben und seiner Verehrung im Kultus antwortet. Rudolf Otto nannte (in seinem Buch Das Heilige von 1917) jene spürbare höhere Macht „das Numinose“ (von lat. numen: Wink, Geheiß, göttliches Walten), ihr Spüren oder Ahnen den sensus numinis, also eine Art religiösen Sinn. Und wer den nicht hat, wie sollte der über Religion mitreden dürfen, wie sollte der wissen können, was Religion ist?

Rudolf Otto schreibt zu Beginn seines Buches über das Heilige: „Wir fordern auf, sich auf einen Moment starker und möglichst einseitiger religiöser Erregtheit zu besinnen. Wer das nicht kann oder wer solche Momente überhaupt nicht hat, ist gebeten nicht weiter zu lesen.“ Erst recht wäre ich gebeten, nicht weiterzuschreiben.

Muss man religiös sein, um kompetent über Religion zu schreiben? Muss man religiös sein, d.h. höhere Mächte oder das Numinose spüren können, um zu wissen, was Religion ist? – Und wie kann man sicher sein, den religiösen Sinn zu haben oder nicht?

Ein Test ist vielleicht dieses von Rudolf Otto (S. 39) zitierte „wundervolle Gebet“ an den Gott Jahwe, das uns ergreifen sollte, anstatt uns (jedenfalls mich) womöglich anzuwidern: „So lasse denn kommen, JHVH, unser Gott, Deine Furcht über alle Deine Geschöpfe und ehrfürchtiges Bangen (emateka!) vor Dir über alles was Du erschaffen, dass Dich fürchten alle Deine Geschöpfe und vor Dir sich bücken alle Wesen.“

Was so getestet würde, ist – nach Otto – „ein nur durch sich selbst bestimmbares Datum im Seelischen“, das sogen. „Kreaturgefühl“, ein subjektives Begleitmoment oder Reflex der Präsenz des numinosen Objektes, d.h. Gottes. Es ist ein Realitätsgefühl, Gefühl oder Sinn für eine Realität, die mächtiger, evidenter oder stärker sein kann als die durch Sehen, Hören, Riechen, Tasten oder Schmecken sich bekundende Realität der Sinne. Ein Gefühl oder ein Sinn fürs Übersinnliche, ein manchmal so genannter sechster Sinn.

William James schreibt (in seinem Buch von 1902 Die Vielfalt religiöser Erfahrung) darüber. Bekennt aber, solches selbst nicht erfahren zu haben und womöglich nie erfahren zu können. „Meine eigene Konstitution schließt den Genuss mystischer Zustände fast vollständig aus.“ (S.382) Aber er interessiert sich für sie und zitiert die Erlebnisberichte anderer religiös oder übersinnlich Begabter. Womöglich lässt sich der vielleicht nur keimhaft vorhandene religiöse Sinn erwecken und trainieren, um so doch noch der eigentlichen Wirklichkeit gewahr zu werden?

William James schreibt 1904 an einen Freund: „ich habe kein lebendiges Empfinden einer Beziehung mit Gott. Ich beneiden die Menschen, die diese Empfindung haben, denn ich weiß, dass der Besitz eines solchen Vermögens mir unsagbar viel helfen würde. Das Göttliche beschränkt sich, was mein aktives Leben betrifft, auf abstrakte Begriffe, die mich als Ideale zwar interessieren und mir eine Richtung andeuten, aber das tun sie nur sehr schwächlich im Vergleich zu dem, was ein Gottesgefühl bewirken würde, falls ich das hätte... Nun, obwohl ich ein solches ´Gottesbewußtsein´ im unmittelbaren und starken Sinne des Wortes nicht besitze, so habe ich doch etwas in mir, das reagiert, wenn ich andere darüber reden höre: ´Es steckt Wahrheit darin...´ Nennen Sie das, wenn Sie wollen, meinen mystischen Keim. Es ist ein sehr gewöhnlicher (häufig vorkommender) Keim.“ (Zitiert bei D. Sölle, Mystik und Widerstand, S. 37 f)

Reicht der mystische Keim für die Kompetenz, über Religion zu schreiben oder auch nur dazu, über Religion zu lesen? - Für James reichte er.

Keiji Nishitani sieht (in seinem Buch von 1961 Was ist Religion?) das sog. „religiöse Bedürfnis“ als Eintrittskarte sowohl für die Lektüre seines Buches als auch für das religiöse Leben selbst. Religion bedeutet für ihn „Gewahrwerdung der Wirklichkeit“. Und es ist klar, dass solches ihm – nicht zuletzt durch die Zen-Meditation – zuteilgeworden ist. Wir, sofern noch unerleuchtet, werden von ihm aufgefordert, „wirklich“ oder leibhaftig dem wahrhaft Wirklichen nachzufragen. Vorausgesetzt ist das religiöse Bedürfnis: Denn es sucht real-wirklich die wahre Wirklichkeit. Es ist „der Schlüssel zum Verständnis dessen, was Religion ist“.

Mit ihm sind wir aber im gewissen Sinne auch schon in der Religion. Denn: „Was Religion ist, lässt sich ... nicht von außen verstehen“. Sie ist etwas, das jeden Einzelnen persönlich betrifft. Es geht, so Nishitani, letztlich darum, ob man „in Richtung auf seinen endgültigen Verfall dahinwelkt oder ob man des ewigen Lebens teilhaftig sein kann“. Na, wer würde da nicht zugreifen?

Nishitani meint, dass die Frage „Wozu existieren wir?“ oder „Wozu habe ich überhaupt gelebt?“ das religiöse Bedürfnis in uns aufsteigen lässt, denn sie lässt eine Leere oder ein Nichts entstehen, das sich durch nichts in der Welt füllen lässt. Außer durch Religion, muss man wohl sagen, oder besser: durch den Gegenstand der Religion. Nishitani geht anscheinend davon aus, dass seine Leser solche Religion, wie er selbst sie offenbar hat, nicht haben. Denn er schreibt, dass die Frage nach unserer Existenz uns dazu treibt, „dass sich unser Dasein für uns selbst in ein Fragezeichen verwandelt“, dass der Horizont des Nichts sich uns auftäte und dass dies „die Gelegenheit zu radikaler Umkehr in unserem Leben“ sei.

Auch bei Nishitani ist es eine Art neuer oder sechster Sinn, den wir dabei einsetzen, ein Sinn für die „mystische Ordnung“ oder eben ein „Sinn für die Realität“. Jedermann könne diese Realitätserfahrung machen, meint Nishitani, zumindest „viele Dichter und religiöse Menschen“ haben sie gemacht. Ihnen erscheint die Realität der alltäglich erfahrenen Dinge in einem anderen Licht, in einer anderen Bedeutung, nämlich so, dass hierbei das Nichts realiter zum Vorscheint kommt. Das Dasein – auf dem Hintergrund des Nichts – wird dabei zum Geschenk.

Wenn eine solche Erfahrung so unendlich wichtig ist und wir sie womöglich noch nicht gemacht haben, weil wir keine Dichter und religiöse Menschen sind, d.h. weil uns das Talent fehlt, - sollten wir da nicht alles daran setzen, religiöse Erfahrung zu machen, also das Numinose, den Gott, die eigentliche Realität oder das erleuchtende Nichts zu erleben? Oder haben wir diese Erfahrung vielleicht deshalb noch nicht gemacht, weil wir zu kopflastig geworden, zu wenig Tier geblieben sind. Oder ist es zuwenig, was, wie Halina Poswiatowska (in: Immer wenn ich leben will. Gedichte über die Liebe und den Tod, zitiert in Die Zeit Nr.43 vom 17.10.2002) dichtet, die Katze spürt?

Die Katze

Ich trage den Herrgott in meinem Fell
wenn ich mich lang ausstrecke
spüre ich seine Finger
auf meinem Rücken gespreizt
in den Muskeln meiner Beine
schreitet er leiser
als der runde Mond
über den lauernden Himmel
scheuchen wir die Zweige nicht auf
der Wind
flattert in unserer Schnauze
als Flügel eines dummen Spatzen
ich lecke von meinem Bart
das warme Blut
blinzelnd – singe ein Loblied
auf den gütigen Gott

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