3. Wahnsinn und freiwillige Marter (Aphorismen Nr. 14 und Nr. 18)

Wahnsinn und freiwillige Marter haben die "überlegenen Menschen" (Nr. 14; 3/27) und "geistigen Führer" (Nr. 18; 3/31) nötig, um Glauben zu finden bei anderen und – vor allem – bei sich selbst (3/28: "bei mir selber"; 3/31: "an sich selber"). Diese überlegenen und führenden Menschen sind "Märtyrer". Und es gibt kein wichtigeres Thema in der Weltgeschichte "als die uralte Tragödie von Märtyrern, die den Sumpf bewegen wollten", die "in dem trägen furchtbaren Schlamm ihrer Sitten Etwas zu bewegen vermochten", um "Vernunft" und das "Gefühl der Freiheit" zu erkaufen, "welches jetzt unseren Stolz ausmacht." (3/31 f) Sitten und Sittlichkeit hindern, meint Nietzsche, Vernunft (die Sittlichkeit...: sie "verdummt", Nr. 19, 3/32) und Freiheitsgefühl oder (vgl. Nr. 9) Originalität und jedwedes individuelle Handeln, zumindest in einer gewissen Epoche der Menschheitsgeschichte, der eine "Hauptgeschichte" vorausgeht, in der, was später und noch heute als Tugend gilt, Gefahr, Schimpf, Laster und Unsittlichkeit bedeuteten. Umgekehrt galt damals als Tugend, was heute für unsittlich befunden wird: Leiden, Grausamkeit, Verstellung, Rache, Verleumdung (Nr. 18, 3/32).

Die führenden, überlegenen Menschen zieht es "unwiderstehlich" dahin, "das Joch irgend einer Sittlichkeit zu brechen und neue Gesetze zu geben" (Nr. 14, 3/27). Irgend einer Sittlichkeit? Also zum Beispiel (Nietzsches Beispiel in Nr.16) die Sitte, nicht mit dem Messer von der Kamtschadalen-Sandale Schnee abzuschaben? – Auf den 'Inhalt' der Sitte kommt es ja angeblich nicht an ("jede Sitte ist besser, als keine Sitte", 3/29). Jede Sittlichkeit und Sitte bedeutet Unfreiheit ("der freie Mensch ist unsittlich"! 3/22). Warum dann doch wieder neue Sitten, "neue Gesetze" (3/27) und nicht Gesetzlosigkeit und Freiheit (das Gesetz töten, 3/28)? In Nr. 19 heißt es: "neue und bessere Sitten" sollten sein. Welche? Doch Kohle mit dem Messer spießen und Eisen ins Feuer legen dürfen (wie in Nr. 16)?

Den Sumpf bewegen, im Schlamm ihrer Sitten irgend etwas bewegen wollen jene Ausnahmemenschen (übrigens "die furchtbarsten Menschen aller Zeiten", 3/28, denn in ihnen brechen "abweichende Gedanken, Wertschätzungen, Triebe immer wieder heraus", 3/26). Irgend etwas! Etwas bewegen, das aber doch Gesetzestötung bedeutet und mit einem bösen, schlechten Gewissen einhergeht. Eine geradezu übermenschliche Aktion also. Dafür braucht man eine himmliche, göttliche, übermenschliche Legitimation, sonst traut man sich eben nicht "das Gesetz" zu übertreten, zu "töten" und auch die anderen glauben nicht, dass dieses Böse eigentlich das Gute ist. Gegen "Gewissensbisse" und Ungläubigkeit der anderen bzgl. der Umwertung des ehemals Bösen in Gutes helfen also der göttliche Wahnsinn und die Selbstkasteiung. Zum göttlichen Wahnsinn (mania) vgl. Platons "vierte Art des Wahnsinns" im Dialog Phaidros. Er kommt mit der Wiedererinnerung an den himmlichen Eros und bei dem, was Platon "nicht unphilosophisch die Knaben lieben" nennt (249a). Er schreibt (249d): "Wer dieses Wahnsinns teilhaftig die Schönen liebt, wird Liebhaber genannt." Die Grausamkeit gegen sich selbst ist durchaus die christliche Selbstquälerei (vgl. Flagellanten), womöglich Selbstfolter mit glühenden Kohlen und heißem Eisen aus Nr. 16.

Der göttliche Eros-Wahnsinn (nicht etwa Gehirnkrankheiten wie Schizophrenie oder Epilepsie, darüber hatte sich Nietzsche in dem Buch von H. Maudsley Die Zurechnungsfähigkeit der Geisteskranken kundig gemacht) und die Selbstquälung gehören zusammen. Sie sind nicht nur Legitimierung bzw. Glaubwürdigkeitszeugnis für irgend welche Sittenveränderungs-Unternehmungen, sondern (so scheint es mir wenigstens) bereits die neue, bessere Sitte selbst: "Gebt Delirien und Zuckungen, plötzliche Lichter und Finsternisse, schreckt mich mit Frost und Gluth... laßt mich heulen und winseln und wie ein Tier kriechen." (3/28) Von dieser Foltererotik handelt z.B. das Gedicht Klage der Ariadne (6/398), die zweite Fassung, in der sich der rasend Liebende und nach Quälerei Lechzende der ersten Fassung 4/311 ff in eine Frau verwandelt hat (vgl. mein Buch von 1982 Ich impfe euch mit dem Wahnsinn, S.168). "Stich weiter... dein Wild nur bin ich, grausamster Jäger! Deine stolzeste Gefangene", heißt es da. Von dieser Erotik handeln auch die Bilder von Francis Bacon, dessen Erlebnishunger ihn immer wieder nach Tanger führte, wo er sich regelmäßig von Strichjungen verwöhnen, d.h. auch ausrauben, verprügeln und blutig verletzen ließ. Die "neuen" guten Sitten Nietzsches (oder Bacons) sind denn auch Rachsucht, Feindseligkeit, Tücke, Argwohn, Bereitschaft zum Furchtbarsten.

Mit diesen 'Tugenden' kennzeichnet Nietzsche die "strenge Sittlichkeit" von "Menschen im Kriegszustande", deren Höchstgenuß die Grausamkeit ist. Nietzsche meint wohl die in "kleinen, stets gefährdeten Gemeinden" lebenden Menschen vor der Epoche heutiger Sittlichkeit, also die Menschen jener "entscheidenden Hauptgeschichte, welche den Charakter der Menschheit festgestellt hat" (3/32), wo das, was heute Tugend heißt, Laster war – und umgekehrt. Anscheinend will Nietzsche zu jenen Sitten und Tugenden zurück. Der damals festgestellte Menschheitscharakter ist durch die spätere und heutige verkehrte Sittlichkeit überdeckt, verdrängt und scheinbar vertauscht worden. Wer sich besser kennen lernt, wird diesen Charakter in sich entdecken und womöglich der alten Sittlichkeit mit ihren "abweichenden ... Trieben" (3/26) fröhnen wollen – als kriegerische, "kraftvolle, rachsüchtige, feindselige, tückische, argwöhnische, zum Furchtbarsten bereite, und durch Entbehrung und Sittlichkeit gehärtete Seele" (3/30).

Aber warum muss man dann grausam zu sich selbst sein? – Das liegt an folgender "Logik der Gefühle" (3/31): Jene Menschen im permanenten (Hobbesschen) Kriegszustande glaubten an Götter, die auch höchsten Spaß an der Grausamkeit hatten. Und so quälten sich die Menschen selbst, um den Göttern Spaß zu machen und sie gnädig zu stimmen. 'Wer sich freiwillig martert, den lieben die Götter', so hieß es dann bei den anderen und so sagte man es zu sich selbst. Selbstkasteiung zur Lust der Götter eignet sich seitdem zur himmlichen Legitimierung abweichender Gedanken und Aktionen oder der Einführung neuer Sitten. Nietzsche braucht diese Selbstmarterung wie den Wahnsinn: sonst glauben die anderen ihm nicht und er glaubt auch nicht an sich selbst, d.h. verliert sein schlechtes Gewissen nicht.

Nun ja: Nietzsche hat sich selbst gequält und dadurch womöglich auch wahnsinnig gemacht. Jedenfalls denkt man an ihn nun schon durch ein ganzes Jahrhundert hindurch als Märtyrer: Furchtbar hatte er zu leiden, und wahnsinnig wurde er auch. Und also glaubt man an ihn. Allerdings nicht so, wie er es sich gewünscht hätte: als Sitten-Erneuerer. Sondern an ihn als Philosophen. Er hat aber sein Evangelium raffiniert und tückisch so verpackt, dass es nur als getarnter Subtext zu erkennen ist, als Camouflage (wie Kafka oder Kleist in ihren Texten auch, siehe dazu in meinem Buch Philosophie der letzten Dinge, S.138 ff "Über Gedankenverfertigung"). Nietzsche gab in seinem löchrigen, brüchigen und verworrenen Obertext den Gläubigen genug Stoff, um sie zu befriedigen.

Wer einen soliden Obertext ohne Subtext zum Thema Moral wünscht, lese das Buch, dem Nietzsche seinen dann mit Löchern versehenen Obertext entnommen hat, das Buch seines in den Jahren 1876 bis 1883 engen Freundes Paul Rée Der Ursprung der moralischen Empfindungen. Chemnitz: Schmeitzner 1877. In Menschliches, Allzumenschliches Nr. 37 (2/61) nennt Nietzsche den Autor dieses Buches einen "der kühnsten und kältesten Denker", der mit seinem "Hauptsatz", dass der moralische Mensch der intelligiblen Welt nicht näher stünde als der physische Mensch, die "Axt" an die "Wurzel" des sogen. metaphysischen Bedürfnisses der Menschen gelegt habe. Rées "natürliche Erklärung" moralischer Phänomene fußt, wie Rée schreibt (Der Ursprung der moralischen Empfindungen, S.VIII), auf den durch Darwin und z.T. schon durch Lamarck begründeten Satz: "Die höheren Tiere haben sich durch natürliche Zuchtwahl aus den niederen, die Menschen sich aus den Affen entwickelt." Rée hatte Nietzsche auf die französischen Moralisten, besonders La Rochefoucault, aufmerksam gemacht. Und Nietzsche reihte den "deutschen" Rée mit seinem Buch in die Reihe der "französischen Meister der Seelenprüfung" ein (2/59).

Den Wagners gefiel der "deutsche Jude" Rée und Nietzsches "réealistische", d.h. psychologische Wende überhaupt nicht. Cosima Wagner meinte, nach seinen Wagner-Reflexen hätte nun Nietzsche nur noch "Réekleckse" hervorgebracht. 1887, nach dem Zerwürfnis mit Rée, schreibt Nietzsche in der Vorrede zur Genealogie der Moral, das "Büchlein" von Rée hätte ihn mit seiner "perversen Art von genealogischen Hypothesen" damals wie alles Antipodische angezogen, und er hätte nie etwas gelesen, zu dem er dermaßen Satz für Satz "Nein gesagt hätte" (5/250).

Rées Text ist nicht geheimnisvoll, verworren, unklar und mehrdeutig wie der von Nietzsche. Nietzsches Text gehört zum Kanon der Philosophie, Rées nicht. Rées Buch kommt im Großen Werklexikon der Philosophie, Stuttgart: Kröner 1999, unter den 1800 dargestellten Werken nicht vor. Von Nietzsche werden 15 Schriften besprochen. Aber Rée handelt natürlich auch nicht von jener speziellen Wahnsinns- und Grausamkeitsmoral bzw. -Erotik, obwohl er ähnlich wie Nietzsche veranlagt war. Weder offen tat er es, was wider die Moral gewesen wäre, noch versteckt, wie es Nietzsche (feigerweise) macht, und zwar so, daß man ihm nichts anhaben kann und der, welcher es entdeckt und offen ausspricht, der Unmoralische ist. So ist Nietzsches Text interessanter. Als Moralwissenschaft taugt er zwar nichts, aber in seiner besonderen Literaturart der Camouflage schon: der Autor will unentdeckt erkannt werden: "Man muss den Maler erraten, um das Bild zu verstehen." (Nietzsche)

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