13. Lauter schlimme Dinge und der Don Juan ihrer Erkenntnis

1. Weiter zu Morgenröthe Nr. 423 'Im großen Schweigen'. – Im Nietzsche-Handbuch (Hrsg. H. Ottmann, Stuttgart 2000, S.110) schreiben die Autoren W. Ries und K.-Fr. Kiesow über Nr. 423, das sei ein in die Ausdrucksweise der Prosa transponiertes lyrisches Gebilde ("ein weiterer Beweis für die gattungsüberschreitende Ausdruckstendenz Nietzsches"), und die ausgedrückte Stimmung scheine etwas darzustellen, "das mit dem Wechsel von Rede und Stummheit, der Allgegenwart des Schreckens und der Unerlöstheit der Natur zu tun hat". "Tiefer betrachtet" erschlösse dieser Aphorismus "eine innere Situation, deren Vorbild bei Schopenhauer zu suchen ist": Das principium individuationis erweist sich "als scheinhaft, als illusorisch", woraus "Entgrenzung des Ich" resultiert. Fazit: "Es handelt sich um eine Rückbildung des Organischen ins Anorganische, eine Lockung in den Tod, welche zugleich als Drohung erfahren wird. Dass Leben, Bewußtsein, menschliche Existenz im Ganzen der Naturabläufe ephemere und dem Untergang geweihte Größen sind, ist eine Erkenntnis, die schon der junge Nietzsche...". – Das war´s.

Was aber haben die von Nietzsche angeführten Affekte, Emotionen und Reflexionen (also Gleißnerei, Tücke, Bosheit und Spott auf Seiten der Natur; Mitgefühl, Sich-nicht-Schämen des Mitgefühls, Mitleid, Spott des Mitleids, Spott des Spottes und den Wahngeist lachen Hören auf Seiten des Ich) mit Ich-Auflösung, Anorganisch-Werden zu tun? Dass es aber zu bösen Menschen und deren Liebhaber passt, davon merken die Forscher nichts. Sollen denn Nietzsches Mitteilung über die Texte und die Sätze seiner Morgenröthe so ganz in den Wind gesprochen sein, sollen sie gelogen sein? Dürfen wir sie denn nicht ernst nehmen? Es steht doch in der Vorrede, dass Nietzsche das, was es sagt, heimlich und unter uns sagen will, nicht verständlich für jedermann, dass wir der Hintergedanken und zarten Finger bedürfen, um ihn, ja, ihn selbst zu lesen, ihn aufzulesen, aufzunehmen als Freund! Und steht nicht in Ecce homo über die Morgenröthe, dass fast jeder Satz "entschlüpft" ist, also vielleicht schlüpfrig ist, dass Liebe und Zärtlichkeit auf "lauter schlimme Dinge" ausgestrahlt werden, bei denen man kein schlechtes Gewissen mehr haben sollte? Dass es überhaupt ums "Loskommen von allen Moralwerten" ginge? Sollen wir das alles ignorieren und vielleicht annehmen, Nietzsche meine das Gegenteil, dass es etwa um die Themen der abendländischen Philosophie, also z.B. Individuationsprinzip, Sprache und Denken, Natursensibilität, unendliche Reflexion usw. ginge? Sollen wir vielleicht meinen, Nietzsche belüge mit solchen Hinweisen sich und uns? Sollen wir annehmen, er schreibt das über seine Texte und Sätze der Morgenröthe, damit wir gerade nicht meinen, dass darum geht, also um lauter zu rechtfertigende, ja mit Liebe und Zärtlichkeit zu versehende schlimme Dinge? – Tatsächlich meinen ja die Nietzsche-Forscher, es ginge nicht um das, was Nietzsche sagt. Aber sie geben keinen Grund dafür an. Denn sie beachten das, was Nietzsche da sagt, gar nicht. Und bei den Texten, über die Nietzsche das sagt, erwägen sie dann nicht, wo hier die schlimmen Dinge sind und was sie sind und welche Art Liebe und Zärtlichkeit hier über sie gegossen wird.

Also zurück zum Text Nr. 423. "Ihr seid schlimme Lehrmeister!" ruft Nietzsche in die Natur. "Soll er" (der Mensch, also ich) "sich" (ich mich) "euch hingeben? Soll er" (ich) "werden, wie ihr jetzt seid, bleich, glänzende, stumm, ungeheuer, über sich selber ruhend? Über sich selbst erhaben?" – Wen meint er mit 'Ihr'? Menschen natürlich! "Ist es denn verboten, den bösen Menschen als eine wilde Landschaft zu genießen, die ihre eigenen kühnen Linien und Lichtwirkungen hat." Das steht bekanntlich ein paar Seiten weiter in Nr. 468. Die schlimme Dinge sind hier böse Menschen, das ist: natürliche Menschen! Ein solcher (böser) Mensch ist wie die Natur, er ist nicht "ein Flecken in der Natur, der uns Pein macht" (Nr. 468). Er ist natürlich! Sich der Natur, dem Meer, dem Abend hingeben heißt also, sich ihm, dem bösen Menschen, dem Liebe und Zärtlichkeit gilt, hinzugeben. Das also ist es!

Was übrigens das Schweigen und das Verstummen betrifft: Erstens heißt es in Nr.527, dass manche Menschen lieber ihr "entzücktes Herz festhalten und pressen", d.h. verbergen, ('Im grossen Schweigen' ist es zweimal das schwellende Herz!) "und welche lieber stumm werden, als dass sie die Scham des Maasses verlören." Andere verwischen ihre Spuren und betrügen, "um verborgen zu bleiben". Zweitens schreibt Nietzsche im Nachlass 1885, dass er (Nietzsche oder der Ich-Erzähler) von den guten und schlimmen Dingen schweigen möchte, das hätte er bei Zeiten gelernt – "sowie, dass man reden lernen müsse um recht zu schweigen." Nietzsches Texte sind womöglich seine rechte Form des Schweigens: beredtes Schweigen. Drittens bittet er in Nr. 457 vorsorglich um Diskretion bzw. "plötzliches Verstummen des weisesten Historikers", der zu sehr Intimes über eine fremde Seele herausbekommen hat. Das gilt für ihn selbst hinsichtlich seiner Texte. Aber wir sollten seine vorbeugende Bitte nicht erfüllen. Weil nämlich über das Intime, was in den Texten zu finden ist, geschwiegen wurde (auch weil man es nicht gefunden hat), wurden seine Texte flach, auf Philosophie getrimmt, missverstanden.

2. zu Nr. 327 'Eine Fabel'. – Nietzsche erklärt, der "Don Juan der Erkenntnis" sei eine noch nicht von Philosophen und Dichtern (wie Goethe, Byron, Stendal usw.) entdeckte Figur. Er beschreibt sie uns nun, entdeckt sie – "als eine der Masken von Nietzsche selbst", schreiben die Nietzsche-Forscher Ries und Kiesow. Sie stellen fest: Nietzsche entwirft eine Denkfigur durch Mehrfachbrechung und Spiegelung des Grundmotivs Don Juan und durch "Auflösung des Substantiellen in eine Kulisse dekorativer Motive". Nietzsche kokettiere mit den "Überlieferungsbestandteilen der europäischen Kultur, die Brusotti "meisterlich entfaltet" hätte. Mehr an Interpretation gibt es nicht, scheint nicht nötig, kein Hinweis auf die Erotik der Erkenntnis von Nietzsches Don Juan bzw. seiner selbst, kein Hinweis auf seinen Liebeshunger und seine Verzweiflung.

Die erwähnten Bestandteile (Motive, Klischees, Versatzstücke, Kulissen), welche aber tatsächlich auch die Substanz liefern (das sexuelle Erkennen als Verzehr oder Einverleibung), sind folgende:

  1. Platons 'Rede der Diotima' im Symposion über den Eros. Erkenntnis als Sublimierung der Knabenliebe bis zum 'Zeugen im Unsterblichen und Schönen'.
  2. Stendals De l´amour. Don Juan, der jagdlustige aber gelangweilte Verführer, will das Böse um des Bösen willen.
  3. Mozarts Don Giovanni. Die Abendmahlzeit des essbegierigen Don Giovanni wird unterbrochen vom steinernen Gast, der nichts essen will; er braucht himmlische Speise.
  4. Pascals Gedanken (Brunschvicgs-Nr.171) über die unterhaltsamen Zerstreuungen, die uns dem Tod anheimfallen lassen.
  5. Das Neue Testament, dort die Abendmahlszene mit der Einsetzung der kannibalischen Eucharistie, d.h. Verzehr von Blut und Fleisch Christi.
  6. Die Geschichte von König Midas, der sich, wie Nietzsche in Nr. 486 der Morgenröthe schreibt, schließlich nach etwas sehnt, das sich nicht unter seiner Berührung in Gold, das nicht essbar ist , d.h. nicht sättigt, verwandelt.

Nicht genannt (von Brusotti, Ries und Kiesow) wird die Sündenfallgeschichte (Essen vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse) des Alten Testamentes mit der Gleichung Essen = Erkennen = Begatten (sexuelles Erkennen). Ohne diese Gleichung lässt sich Nietzsches Text, meine ich, nicht so leicht entschlüsseln (sie versuchen es ja auch gar nicht erst). Erhellend ist ein Vergleich mit Kafkas Figur des Hungerkünstlers (in der Erzählung Der Hungerkünstler von 1924), der mir mit Nietzsches Don Juan verwandt zu sein scheint. Der Hungerkünstler ist der leidende Homosexuelle, der (in dieser bzw. seiner Gesellschaft) nicht anders kann als hungern. Seine letzten Worte spricht er "mit wie zum Kuß gespitzten Lippen gerade in das Ohr des Aufsehers hinein, damit nichts verloren ginge, 'weil ich nicht die Speise' (d.h. die Art Liebe!) 'finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.'" (Allerdings ist das auch wieder nur meine Interpretation, nicht die der einschlägigen Kafka-Forscher.)

Nun zu Nietzsches Don Juan der Erkenntnis. Er liebt die Dinge nicht, die er erkennt, heißt es im Text. Erkennen will er schon. Er hat Lust an der Jagd und an Intrigen, um zum Ziel der Einverleibung und des Verzehrs des Dings zu kommen. Aber das sättigt nicht. (Das ist das relativ "Wehethuende"). Die den Philosophen und Dichtern bekannte Figur des Don Juan der Weiberjagd liebt die Frauen nicht, die er 'erlegt', verbraucht oder verzehrt. Er stürzt, bis zuletzt bei gutem Appetit, in die Hölle. Dagegen der Don Juan der Erkenntnis: Er hat zum Schluss, wenn nichts mehr Erjagbares da ist "als das absolut Wehetuende", Lust auf die Hölle. Dort bekommt er es zu erkennen, d.h. kann er es verzehren, das absolut Wehethuende, das wie Absinth und Scheidewasser Geist und Körper ruiniert, das aber auch der letzte und höchste Genuss ist, vergleichbar Platons "Zeugen im Schönen und Unsterblichen". Wenn es (das homoerotische Erkannte) ihn nicht auch entttäuscht, "wie alles Erkannte!" Dann wäre er wie der "steinerne Gast" (der strafende Vater, das Über-Ich) des Don Giovanni der Weiberjagd, der keiner Abendmahlzeit teilhaftig wird.

Ist es denn so, dass "die ganze Welt der Dinge" für mich "Hungrigen keinen Bissen mehr zu reichen" hat?, klagt Nietzsche. Anstatt auf die Jagd nach Frauen und den Verzehr derselben hat er sich auf die Jagd nach zu erkennenden Dingen verlegt. Nach Platon ist das sublimierte Päderastie bzw. Homoerotik (Ist das Erkannte Ersatz für die nahrhaften Dinge der Welt? – Vgl. Morgenröthe Nr. 539: "Als ob ihr überhaupt mit Gedankendingen anders verkehren könntet als mit Menschen!"). Er möchte nach all den Jagden, nach all der Freidenkerei (denn das ist sein Erkennen) endlich von der letzten Erkenntnis "verführt" werden und in die Hölle kommen (den Gegenort zum Himmel, in dem es nur Seelenspeisen gibt), um endlich satt zu werden. – Oder ist die letzte Erkenntnis die absolute Enttäuschung, das absolut Schmerzliche, "dass ich verbannt sei von aller Wahrheit! Nur Narr! Nur Dichter!" (vgl. Nur Narr, nur Dichter, 6/380). Dann muss er, wie Kafkas Schau-Hungerer, sterben (mit dem einzigen und unerwiderten Kuss auf den Lippen), weil er die Speise nicht fand, die ihn hätte sättigen können. "Oder, meine Brüder? Oder? – " (vgl. Nr. 575) Nietzsches Morgenröthe "schließt mit einem 'Oder?'."

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