12. Das "zarte Roth" und die "süße Bosheit des Schweigens"

1. Als im Jahre 1888 Nietzsche, kurz vor seinem Zusammenbruch, in Ecce homo einen Rückblick auf die Reihe seiner Bücher verfasste und zu jedem Buch auch eine Interpretationsanweisung brachte (die ich in meinem Buch Ecce Nietzsche herausgestellt und befolgt habe), kennzeichnete er die Morgenröthe als ein "jasagendes Buch". "Kein negatives Wort, ... kein Angriff, keine Bosheit" sei darin. Nicht die Mittel, nur die Wirkung, der "Schluss" daraus, seien negativ. Die Wirkung sei die "scheue Vorsicht" vor der Moral.

Morgenröthe ist ein Buch aus dem "jasagenden Theil" seiner Philosophie. Mit Jenseits von Gut und Böse, nach dem Zarathustra, begann die "neinsagende, neinthuende Hälfte", d.h. "der große Krieg", die "Vernichtung" (6/350). Es kamen Bücher "mit Pulvergeruch": z.B. die Philosophie mit dem Hammer in Götzendämmerung oder der Fluch auf das Christentum in Antichrist.

Jetzt, 1888, rückblickend, erinnert sich Nietzsche, begegnet seinem lieblich riechendem Buch Morgenröthe wieder. Er berührt mit diesem Buch sich selbst: ein zwischen den Felsen an der Küste bei Genua in der Sonne liegendes "Seegethier". Das eben war Nietzsche damals, um 1880. Er berührt nun seine eigene Haut. Diese "zittert vor zarten Schaudern der Erinnerung".

Mit zarten Fingern ihn zu lesen, hieß es im Vorwort von 1886, sollten wir ja lernen, damit uns, wie ihm selbst nun, bei einiger "Feinheit in den Nüstern" "fast jeder Satz zum Zipfel" wird, um Unvergleichliches aus der Tiefe zu ziehen. Denn "fast jeder Satz" ist "erdacht, erschlüpft" in jenem Felsen-Wirrwar von Genua. Es war seine Kunst in diesem Buch, vorbeihuschende "kleine Dinge" ("göttliche Eidechsen" oder Lacerten) auszuspähen und ein wenig festzumachen, d.h. anzuspießen – zumindest mit der Feder. Das, so schreibt Nietzsche 1887 in den Liedern des Prinzen Vogelfrei, sei eben Dichters Berufung: Anstatt ihnen "hintendrauf" zu sitzen und "in edle Theile des Lacerten-Leibchens" realiter mit dem "Pfeil" einzudringen (es anzuspießen, wie es der junge Griechengott mit schöner Grausamkeit tat), setzt der Dichter, der Lacerten-Jäger Nietzsche also, nur "Reime" drauf (vgl. 3/639 f, vgl. "Nur Narr! Nur Dichter!" 6/377). "Mein Herr, Sie sind ein Dichter" sagt ihm achselzuckend der tickende "Vogel Specht".

Das Buch Morgenröthe, betont Nietzsche, sagt Ja zu "lauter schlimmen Dingen", die bisher verboten, verachtet und verflucht worden sind, lässt Licht, Liebe und Zärtlichkeit auf diese schlimmen Dinge strömen. Um Licht, Liebe, Zärtlichkeit beim bisher Verbotenen und Verfluchten geht es, nur darum! D.h. um Licht, Liebe und Zärtlichkeit überhaupt. Denn Moral, Fluch, Verbot und Verachtung, soll gar nicht mehr in Betracht kommen.

Nietzsche sucht die (östliche) Morgenröte, "das zarte Roth", mit dem "– ah, eine ... ganze Welt neuer Tage!" ohne Moralwertungen anbricht, wie Columbus (westwärts) sein Indien, nicht wissend, wie die Fahrt ausgeht. Wird man sagen, dass wir scheitern mussten? Oder? "Oder meine Brüder? Oder? (FröWi Nr.575) Mit diesem "Oder" schließt die Morgenröthe, in Hoffnung.

Warum nur wird Nietzsches Botschaft, seine Sehnsucht nach Liebe und sein Anspruch auf "das hohe Recht, das Vorrecht auf Dasein", sein Leiden unter den noch in unseren Tagen herrschenden Flüchen, Verachtungen und Verboten gegenüber gleichgeschlechtlicher Liebe, nicht verstanden? Hat man denn keine Vorstellung davon, wie man unter jenen moralischen Repressionen leiden kann? Was es bedeutet, nicht einmal darüber reden zu können, nie wissend, dass man an den Richtigen gerät und nicht doch an einen Verächter und womöglich Verräter. Denn sogar (strafrechtlich) kriminalisiert hatte man diese Liebe. Versteht man denn nicht, dass Liebe und Tod tiefer sind als die sog. philosophischen Probleme, sagen wir die Unterscheidung von erster und zweiter Ousia bei Aristoteles oder die Unterscheidung von Ding als Erscheinung und an-sich-betrachtet bei Kant, dass sie, jene "letzten Dinge" aber doch dahinter stecken? (Denn: Die erste Ousia, das ist das singuläre Einzelne, letztlich das nicht abzählbare monadische Ich, das nach Mitteilung und Liebe sich sehnt. Und Kants Welt der Dinge an sich ist die, welche wir, so meint Kant, nach dem Tode schauen, wenn wir von Angesicht zu Angesicht sehen, wenn wir erkennen und erkannt werden, wie es – für Kant – zu Lebzeiten, außer in der Kindheit bei seiner Mutter, nie der Fall war.)

"Wofür man vom Erlebnisse her keinen Zugang hat, dafür hat man kein Ohr", schreibt Nietzsche in Ecce homo, in dem Kapitel "Warum ich so gute Bücher schreibe". Da er nun nur von seinen Erlebnissen schreibt und diese anscheinend "außerhalb der Möglichkeit einer häufigen oder auch nur selteneren Erfahrung liegen", hört der Leser seiner Bücher gemeinhin nichts und denkt "dass, wo Nichts gehört wird, auch Nichts da ist." Der gemeine Nietzsche-Leser, der verstanden zu haben glaubt, macht aus Nietzsche, so schreibt dieser selbst, einen "Idealisten". Denn tatsächlich verwendet er ja philosophische Klischees und Lehrstücke, z.B. die Lehre von der Unmöglichkeit der Wahrheit á la Protagoras oder den erkenntnistheoretischen Idealismus aus Kants Kritik der reinen Vernunft, sowie (in seiner allzu beliebten Abhandlung Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, von der alle ´was verstanden haben, eben das, wovon sie schon vorher wussten, dass sie es verstehen sollten) die Lehre von der Sprachgebundenheit der Weltsicht á la Gustav Gerbers Sprache als Kunstwerk u. Ä.), um dahinter seine Erlebnisse, und nur um diese geht es, zu verstecken. Denn realiter musste er sich ja auch mit seinen Erlebnissen vor den Menschen hinter der Fassade der Konvention und des Klischees verstecken.

2. Nr. 423 handelt von einem hinter einem Klischee (das der Einswerdung mit der Natur abseits von Gesellschaft und diesseits von Sprache und Denken) versteckten Erlebnis. Ist es das Erlebnis des Nicht-reden-dürfens, des Schweigenmüssens? Handelt es von der Ummünzung des Schweigens in Bosheit durch Verspotten des Selbstmitleids ob des Schweigenmüssens? – Süße Bosheit, Hinterlist, Mitgefühl und Gleißnerei oder Heuchelei, leidendes Glück, Spott, des Spottes spotten, – so einige Worte Nietzsches für sein Erlebnis, für den Gefühlskomplex bzw. die Stimmung in Nr. 423. Ein kaum verständlicher Text!

Erinnert sei an den Text in 11/498 (aus dem Jahre 1885): "Als ich jung war, bin ich einer gefährlichen Gottheit begegnet, und ich möchte niemanden das wieder erzählen, was mir damals über die Seele gelaufen ist – sowohl von guten als auch schlimmen Dingen. So lernte ich bei Zeiten schweigen, so wie, dass man reden lernen müsse, um recht zu schweigen: dass ein Mensch mit Hintergründen Vordergründe nöthig habe, sei es für andere, sei es für sich selber." Ums Mensch-Sein geht es. Wie kann ich noch Mensch sein, ohne zu reden, ohne darüber zu reden, was mich bedrückt, was ich ersehne? Ein schreckliches Vorbild ist da die ungeheure Stummheit des Meeres: stumm, über sich selber ruhend und über sich erhaben zu sein. Kann so ein Mensch sein: über sich erhaben und stumm?

Dabei schweigt die Natur, das Meer, nur aus Bosheit, redet sich der Mann am Meer ein. Das Meer schweigt, um ihn zu verspotten, ihn, der mit der stummen Natur Mitleid hat, weil ihr die Zunge gebunden ist (aus Bosheit). Sein (Nietzsches) Herz würde auch spotten, mit dem Meere mitspotten, wenn sein Mund etwas in "die süße Bosheit des Schweigens", die das Herz genießt, hinaus riefe. – Was soll das?

Nietzsche hat, wie er in "Morgenröthe" aus Ecce homo (6/329) schreibt, "mit dem Meere Heimlichkeiten"! Das heißt wohl: Es gibt etwas, was nur er und das Meer wissen. Er ist da allein. Und macht doch schlimme Sachen. Sprechen und Denken werden ihm (der dauernd denkt und verbalisiert) verhasst: Hört er denn nicht "hinter jedem Worte (mit dem er sich verschweigt) den Irrthum, die Einbildung, den Wahngeist lachen"? – Was mag der Wahngeist ihm da einreden, etwa dies: Du irrst dich, du bist verückt, Nietzsche, du bildest dir nur ein, dass die Natur dich verspottet? Die Natur, das Meer, all das interessiert sich gar nicht für dich. Damit brauchst du nicht zu reden, kannst du nicht reden.

Aber mit den Menschen, die als Landschaft genießbar sein sollenden "bösen" Menschen (aus Morgenröthe Nr. 468) könnte man es doch wohl! Wo sind sie? – Eine Antwort gibt vielleicht das Stück "Genua", Nr. 291 aus der Fröhlichen Wissenschaft. Da vergleicht Nietzsche zunächst die Bauweise des Genuesen, der mit seinem "Blick Gewalt und Eroberung ausübt", mit der Bauweise im Norden (z.B. Naumburg, seiner Heimat), die von allgemeiner Lust an Gesetzlichkeit und Gehorsam zeugt. Sodann kommt er zu den Menschen: Durch die Stadt Genua streifend (Menschen ausspähend, wie er an anderer Stelle, Nr. 468, sagte), "findest du" (sagt zu uns jetzt) "um jede Ecke biegend einen Menschen für sich – dem Gesetze abhold und dem Abenteuer angetan. Mit einer "wundervollen Verschmitztheit der Phantasie" will er auf alles bereits Begründete noch einmal, wie zur Neugründung und Besitzergreifung, seine Hand legen (so wie in Nr. 283 die Erkenntnis die Hand ausstreckt nach dem, "was ihr gebührt") – und sei es auch nur für einen sonnigen Nachmittag, wo seine unersättliche Seele Sattheit fühlt und seinem (Gewalt und Eroberung ausübendem) Auge "nur Eigenes und nichts Fremdes mehr sich zeigen darf." Nietzsches Ideal des Übermenschen? – Und die "wundervolle Verschmitztheit der Phantasie". Was ist sie? Unsere Phantasie von etwas Süßem, Schönem, Bösem, einem Liebesspiel der besonderen Art? – Ich weiß es nicht, ich rate es.

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