11. Über Schönheit und Wahrheit im Verkehr mit Menschen / Dingen (Nr. 468, 539, 550)

Nr. 468: Das Reich der Schönheit ist größer als die Landschaft, deren Schönheit man genießt, erklärt uns Nietzsche. Man sollte, wie in der Landschaft, so auch unter Menschen umhergehen, sollte Menschen entdecken und ausspähen, ihnen Gutes (Anständiges, Gesetzliches) und Böses (Unmoralisches, Unanständiges) erweisen, damit sich ihre Schönheit offenbare, sich entfalte – wie Gewitter, Nacht, Regen.

"Ist es denn verboten, den bösen Menschen als eine wilde Landschaft zu genießen?", ruft uns Nietzsche zu. Der "böse" Mensch sollte genossen werden dürfen, der Mensch, der sich nicht "gut und gesetzlich stellt" (dann wirkt er nämlich wie eine Karikatur und Verzeichnung)! Der böse, genießbare Mensch ist ja der unanständige, der Ungesetzliche (d.h. hier: der Schwule, keineswegs sollte man bei den Bösen an Saddam Hussein, Iddi Amin oder Hitler denken, an Cesare Borgia nur insofern, als Nietzsche ihn genannt hat als einen prächtigen, mächtigen, egoistischen Menschen). Er muß ausgespäht, entdeckt, erkannt werden. Und dann sollte er als eine wilde Landschaft (mit ihren Kurven, Linien, Lichtwirkungen usw.) genossen werden dürfen.

"Ja, es ist verboten"! klagt Nietzsche. Bisher durfte man nur im "Moralisch-Guten nach Schönheit suchen"! Wenig hat man gefunden: "Schönheit ohne Knochen"! Aber hundert Arten von Glück gibt es bei den Bösen (den bösen Jungen), von denen der Tugendhafte nichts ahnt, und hundert meist noch nicht entdeckte Arten von Schönheit!

Nr. 539: "Wißt ihr auch, was ihr wollt?", beginnt Nietzsche Nr. 539, wisst ihr, worauf ihr euch einlasst, wenn ihr die Wahrheit (im Verkehr mit Dingen / Menschen) wollt? Dann wollt ihr "unbedachtsam" in einer "schauerlichen Komödie" mitspielen.

Zur Komödie gehört (meist) die Verkleidung: Hier ist es die Verkleidung der Wahrheit. Sie tritt als Gespenst, als Gespinst auf. Unter ihren Kleidern stecken wir selbst. Sie findet sich in der Höhle der Erkenntnis. Nietzsche fragt uns: Habt ihr keine Angst davor? – Wer ist "ihr"? Oder wer sind wir? Wer ist gemeint?

Nietzsche appelliert an diejenigen, welche meinen, mit Gedankendingen doch anders als mit Menschen verkehren zu können, anders, d.h. ohne "Wärme und Schwärmerei". Denn nur so kann man ihm, dem Gedankending, dem Ding überhaupt (und zwar so wie einem Menschen) Gerechtigkeit verschaffen. (Das nämlich nennt Nietzsche hier Wahrheit: den Gedankendingen Gerechtigkeit verschaffen.) Ohne Wärme und Schwärmerei geht das nicht. Wahrheit ist 'a priori' vorbestimmt durch diese Bedingungen ihrer Akzeptanz: Wie muss sie beschaffen sein, dass gerade ich sie annehmen kann?, so sollte man sich fragen. Natürlich ist es dann nicht mehr die objektive Wahrheit. Wer sie will, macht sich zum unbedachten Mitspieler einer schauerlichen Komödie.

"Ihr" in der Anrede Nietzsches, das sind die, die meinen, ohne "schämenswerte Gelüste" etwas sehen / erkennen zu können, ohne Sehnsucht nach Übereinstimmung oder nach dem Gegenteil zu dem, was der Andere sieht, oder ohne Sehnsucht danach, das Gegenteil von dem zu finden, was man bisher zu finden meinte (dass z.B. der Gegenstand, der Mensch, anders ist; dass er also einer von den anderen ist).

Nietzsche erklärt: Im Verkehr mit Gedankendingen ist dieselbe Moralität und Ehrenhaftigkeit, sind Hintergedanken, Schlaffheit, Furchtsamkeit wie im Menschenverkehr. – Geht es hier nicht überhaupt nur um diesen Verkehr unter Menschen, und um die schauerliche Komödie der Wahrheitssuche: Liebt er mich, liebt er mich nicht, ist er so, ist er anders? Überall ist man mit seinem Ich dabei, das liebes- und (mit Pascal) hassenswürdige Ich. Überall Projektionen von sich in die Dinge, d.h. den anderen. Wie denkt er von mir, was empfindet er, will er, traut er sich nur nicht usw.. Nietzsches 'Andere' sind Gedankendinge. Er hat ja keine Freunde, mit denen er verkehren kann, denen er gerecht werden kann, und zwar ohne "Moralität", "Ehrenhaftigkeit", "Schlaffheit", "Hintergedanke", "Furchtsamkeit".

Das Ganze (die Nr. 539) ist verpackt in den Schein einer Erkenntniskritik à la Protagoras: Objektive Wahrheit ist unmöglich, dem einen scheint der Wind heute kalt, dem anderen warm, und morgen ist es wieder anders usw. Das für bare Münze zu nehmen, ist Nietzsche nicht würdig. Solch eine Trivialität! Das hätte man dann auch einfacher, besser sagen können. Nietzsches Versteckkunst ist meisterlich. Er hat den Text so gemacht, dass wir einen Subtext erraten und ihm so gerecht werden können.

Nr. 550: Hier bricht Nietzsche eine Lanze für das Entzücken der Erkenntnis auch beim häßlichsten Gegenstand der Erkenntnis, so dass, wer es oft und häufig macht, das Erkennen oder den Dingverkehr, am Ende alles schön und nichts mehr häßlich findet. Er verweist auf "die jetzige Art der Wissenschaft".

Meint er die (damals) fortschrittliche, moderne Physik, Physiologie, oder die Historie (Burckhard, Bachofen), die Altphilologie? Oder ist das nur eine Finte, ein Wort für anderes, für das, was er später "die fröhliche Wissenschaft" nennt, also für seine Wissenschaft: das fröhliche Menschenerkennen mit "Wärme und Schwärmerei"? – Letzteres, meine ich. – Auch in Nr. 450 scheint es die Wissenschaft zu sein (im Unterschied zum "Wahn" oder, wie es hier in Nr. 550 heißt, zu "Einbildung und Verstellung"), die durch alle Sinne mit "süßer Lockung" wie der "Zauber aller Zauber" als eine "frohe Botschaft" wirkt, die befreit vom "Wehe". Doch auch hier steckt diese Maxime dahinter: "Zu den Dingen selbst!" "Hinein ins volle Leben"! – Wissenschaft ist Nietzsches Metapher für den Menschenverkehr, für die Erkundung der Menschen, die Entdeckung der "bösen" Menschen.

Bezüglich dessen, was bereits aus der jetzigen Wissenschaft herausströmt (das ist das Entzücken beim Erkennen), meint er: Auf die Dauer legt sich das Erkenntnis-Entzücken als Schönheit nicht nur um die Dinge herum (als ihr schöner Schein), sondern dringt in sie ein. "Möge die zukünftige Menschheit für diesen Satz ihr Zeugnis ablegen"! Das wünscht sich Nietzsche für die Zukunft (ohne Ironie). Bis es soweit ist, also "inzwischen", gedenken wir jener Erkenntnisglücklichen: Platon, Aristoteles, Descartes und Spinoza (Fröwi Nr.334: nicht lachen, weinen, verfluchen, sondern erkennen! Das ist Spinozas Devise. Vgl. Abhandlung Vom Staate, Kap. 1, § 4). Wie müssen sie die Erkenntnis genossen haben!, fragt sich Nietzsche rhetorisch und mahnt dann, anscheinend gegensätzlich zu seinem Wunsch, die zukünftige Menschheit sollte die Dinge innerlich schön werden lassen, davor, zum Lobredner der Dinge zu werden, wenn man denn redlich bleiben will.

Was darf man, soll man denn loben? Das "an sich Schöne"? – Das klingt nach "Dinge an sich", welche bei Kant und auch bei Nietzsche (in Nr. 539) unerkennbar sind. – An sich ist nur das Erkennen selbst schön, ist entzückend. Die Dinge werden dadurch auf Dauer schön gemacht – für den, der "oft und viel" Erkennen betreibt oder mit den Dingen verkehrt (wie in Nr. 539).

Dass die schöne Erkenntnis auch die hässlichsten Erkenntnisobjekte schön macht, hat natürlich nichts mit naturwissenschaftlicher Erkenntnis zu tun. Der Dreck, die Krankheit (BSE, HIV usw.) wird nicht dadurch schön, dass man sie glücklich erkannt hat. (Das unerkannte Plutonium im abgereicherten Uran des Explosionsstaubes ist nicht schöner als das erkannte.) Aber die schöne Liebe macht schön: legt sich auf und in den Anderen!

Nur als ästhetisches Phänomen ist die Welt gerechtfertigt, hatte Nietzsche früher geschrieben. Jetzt ist sie es als Erkenntnisobjekt! Denn das Erkennen macht die Welt schön (schön "sonnig"!). Weil nämlich das Erkennen an sich schön ist – als Glück des Entdeckens oder, wie in Nr. 468, des Ausspähens der schönen, bösen Menschen, die als Landschaft zu genießen sind! Deshalb also ist die Welt schön: Sie ist schön und sonnig, weil es in ihr diese auszuspähenden Dinge / Menschen gibt. Und des weiteren ist sie schön wegen des glücklichen (Gedanken-)Verkehrs mit ihnen. – Früher gab es für Nietzsche (und gibt es heute für die Menschen, siehe Beginn von Nr. 550 immer noch) nur "Verehrung und Glücksgefühl für die Werke der Verstellung und Einbildung, also den Schein. Es gab das Glück nur beim Verlassen der Wirklichkeit – in der Kunst (Wagners), der apollinischen Verklärung. Jetzt (nach Abkehr von der Kunst bzw. Wagner hin zur sogen. Wissenschaft) geht Nietzsche (er möchte es zumindest) ins wirkliche Leben, er geht unter die Menschen, um sie zu erkennen, ihre Schönheit zum Blühen zu bringen. Jetzt also soll es das Glück beim Eindringen in die Wirklichkeit sein, welches die Welt rechtfertigt, – das Glück der Liebe natürlich. Zumindest in Gedanken!

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