1. Morgenröte

Vorrede. Nr. 1: Rückblickend (von 1886 auf 1881) sieht Nietzsche sich in seinem Buche Morgenröte als einen den Glauben an die Moral (oder das "Vertrauen zur Moral") untergrabenden einsamen Maulwurf, von Glaube und Hoffnung auf "seine eigene Erlösung, seine eigene Morgenröte" geführt. Noch will er seine eigene lange Finsternis haben, sein "Unverständliches, Verborgenes, Rätselhaftes". Selbst seine Freunde wissen nicht, wo er ist. Nicht wie Trophonios, der nach sechs Tagen Glück in seiner Höhle starb, ist er da unten. Er wird wieder auftauchen, wieder Mensch werden und uns sagen, was er da wollte. Er wird es sagen, weil er in der Einsamkeit verlernt hat, zu schweigen.

Nr. 3: Schweigen tut er mit anderen, muss er, sonst fallen sie über ihn her. Denn: was er tut, ist unmoralisch: nämlich über Moral nachdenken. (Beispiele für Moralisches nennt Nietzsche nicht. Eine Definition von Moral gibt er nicht. Vielleicht fragt er sich: Ist Euthanasie, Masturbation, Homosexualität böse, zu ächten? Ist Mitleid, Sozialismus, Frauenemanzipation, Demokratie gut, zu befürworten? Öffentlich darf man solche Fragen nicht stellen, geschweige denn sich entsprechend verhalten. Das eine gilt als schlecht, das andere als gut. Wehe, man sieht es anders!) Hier, unter der Erde, hindert ihn keine Moral (d.h. "das Gewissen, der gute Ruf, die Hölle, unter Umständen selbst die Polizei") daran, die Moral zu kritisieren, hier ist er unbefangen. Aber die Moral ist ein schwieriges Objekt, ein gefährliches: Moral bezirzt (wie Circe in der Odyssee) ihren Kritiker, so dass dieser sich selbst etwas antut, wenn er sie kritisiert (und sich auch schämt, das vermeintlich Unmoralische zu tun). Moral hat bisher alle Philosophen bezirzt. Kant baute auf ihr sein majestätisch-sittliches Gebäude. Robespierre wollte das Reich des Wissens, der Gerechtigkeit und Tugend auf der Erde gründen. Die moralische Ordnung wollten sie unangreifbar machen, obwohl doch Natur und Geschichte gründlich unmoralisch sind. Der Glaube an die Moral ist absurd wie Tertullians und Luthers Glaube: "ich glaube, weil es absurd ist".

Nr. 4: Noch tiefer als das Vertrauen in die Vernunft ist das in die Moral. Gerade das will Nietzsche untergraben. Was leitet ihn? Auch ein Gesetz und Gehorsam, auch Moral, die letzte Moral, die Redlichkeit, das Gewissen. Es sagt uns, dass wir nicht zurück wollen in das, was "überlebt und morsch" ist: "Gott, Tugend, Wahrheit, Gerechtigkeit, Nächstenliebe", "Christlichkeit", "Romantik und Vaterländerei", "Artisten-Genüßlichkeit, Artisten-Gewissenlosigkeit", kurzum, jene Ideen und Ideale, die uns hinan ziehen. Mit Goethe ist das das ewig Weibliche (das aber, unter uns, d.h. von Goethe zu Kanzler Müller, und mit Nietzsche gesagt, uns eigentlich herab zieht. Am Schluss von Faust II wird das ewig Weibliche gegen den plötzlichen Ausbruch von Mephistos Homosexualität gesetzt!), Nietzsche nennt es "Feminismus oder Idealismus". Das wollen "wir Immoralisten, wir Gottlosen" nicht mehr. Wir Meta-Moralisten vollziehen "die Selbstaufhebung der Moral".

Nr. 5: Warum so laut und eifrig davon reden! Es ist klüger, es unter uns zu sagen, so heimlich, dass alle Welt uns überhört (und die Polizei nicht anrückt). Und langsam. Das Problem habe keine Eile, schreibt er. (Wieso eigentlich nicht? Spielt Nietzsche den Überlegenen? – Zumindest 1881 zeigt Nietzsche keine Eile, nach 1886 sieht es anders aus. Vgl. bes. Ecce homo. In der Fröhlichen Wissenschaft heißt es: unsere Zeit wird schon kommen, so wie die Ebbe nach der Flut.) Das Buch, mahnt Nietzsche, sollen wir langsam lesen – "mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Türen, mit zarten Fingern und Augen". Nietzsche wünscht sich wohl, dass der Leser mit dem Buch umgeht wie mit ihm selbst: zärtlich, hintersinnig, erotisch. "Lernt mich gut lesen!", schreibt er, d.h. seid zärtlich, gut zu mir! Es können auch noch andere sich anschließen, durch die Hintertüre kommen. Man kann aber auch immer durch sie verschwinden. Heimlich, langsam, sich nicht erwischen lassen! Noch deutlicher darf er nicht werden. Sein Unternehmen, die dunkle "Arbeit der Tiefe", ist auch von dieser Art (siehe Nr. 1): Bohren, Graben, "langsam, besonnen, mit sanfter Unerbittlichkeit vorwärts kommen, ohne dass die Not sich allzusehr verriete." Har er nicht einen "boshaften Geschmack", fragt Nietzsche sich.

Zurück zur Auswahl